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Kein Entrinnen

Titel: Kein Entrinnen
Autoren: Romain Sardou
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    3. Februar 2007
     
    »Das Schlimmste, das garantiere ich Ihnen, ist das Aussteigen aus dem Auto …«
    Dieser unvergängliche Gedanke stammte aus Kalifornien, genauer gesagt aus Hollywood. Mit diesen Worten beschrieben die Filmregisseure den »unangenehmsten« Teil ihres Berufs, nämlich das allmorgendliche Verlassen des Autos nach der Ankunft am Drehort. Eine Schar von Assistenten erwartete sie dort und bestürmte sie mit Fragen und Problemen, die auf der Stelle gelöst, und mit Entscheidungen und noch mehr Entscheidungen, die sofort gefällt werden mussten. Nichts als Komplikationen. In diesen Minuten spürte man, laut Kubrick und Spielberg höchstpersönlich, im Innersten nur einen einzigen drängenden Wunsch: kehrtzumachen und sich wieder ins Bett zu legen.
    In dieser eiskalten Winternacht des Jahrs 2007 saß Colonel Stu Sheridan, der Chef der Staatspolizei von New Hampshire, zusammengekauert in seinem Auto, während er sich dem düsteren Schauplatz eines Verbrechens näherte, und dachte, dass die Maxime aus Hollywood auch sehr gut zu seinem Beruf als Cop passte. Geradezu perfekt sogar.
    Eine halbe Stunde zuvor hatte ihn ein Anruf seines ersten Stellvertreters Lieutenant Amos Garcia geweckt. Dieser hatte ihm ohne ein Wort der Einleitung oder Entschuldigung für den morgendlichen Überfall mitgeteilt, dass er ihm einen Fahrer schicken werde. Es gab - so seine eigenen Worte - eine »gewaltige Schweinerei« auf der Baustelle für die neue Interstate 393 zwischen Concord und Rochester mitten im Wald von Farthview Woods. Sheridan kannte den Ort: Seit einem Jahr befand sich dort eine öffentliche Baustelle für den Ausbau der Autobahn, ein Durchstich von fünfzehn Kilometern durch den Wald mit Teilabschnitten auf Pfeilern, die die eingedämmten künstlichen Seen überbrücken sollten.
    Auf einen Ellbogen gestützt entzifferte Sheridan auf seinem Wecker, dass es vier Uhr war. Mit abgehackten Worten setzte sein Stellvertreter ihn summarisch über die chaotische Lage in Kenntnis.
    »Worum geht es? Ein Verbrechen?«
    Garcia zögerte.
    »Schwer zu sagen, Chef. Um ehrlich zu sein, ich hab die Augen noch nicht offen genug, um zu zählen, wie viele Leichen wir am Hals haben!«
    »Scheiße. Okay. Ich mache mich fertig«, antwortete der Colonel. Der Lieutenant beendete das Gespräch abrupt. Sheridan rollte sich langsam ans Fußende des Betts, um seine Ehefrau nicht zu wecken. Er tappte im Dunkeln vorwärts und griff nach seinen Kleidern vom Vortag, die auf einem Sessel lagen.
    Colonel Stuart Sheridan war ein Riese mit dem Nacken eines Lineman im Football, einem vierschrötigen Oberkörper und keinem Gramm Fett am Gürtel. Diese Statur ließ unweigerlich alle, die mit ihm sprachen, die Stimme senken. Sie war ein Geschenk für einen Mann mit Polizeimarke, vor allem in Zeiten nächtlicher Patrouillen. Anders als die Kraft des Fünfzigjährigen hatten dessen Gesichtszüge allerdings den Zenit des halben Jahrhunderts schon vor langer Zeit überschritten. Dreißig Jahre Dienst, bezahlt mit großen Krähenfüßen an den Schläfen, Tränensäcken unter den Augen und langen, tief eingegrabenen Furchen auf der Stirn. Sein Bürstenhaarschnitt war eisengrau und licht geworden; sein mit Narben bedecktes Gesicht erinnerte ihn an seine Jugend, an seine »Westernphase«, in der keine Untersuchung ohne eine Schlägerei abging. Heute herrschte Stu Sheridan ohne diese direkten Kontakte mit der Verbrecherwelt über die Staatspolizei, eine einflussreiche Position, die ihm niemand streitig machte.
    Er ging ins Wohnzimmer hinunter, um seine Uniform anzuziehen. Während er seinen Gürtel umschnallte, bemerkte er die zwei weißen Lichtkegel der Scheinwerfer eines Autos, das vor seiner Vortreppe anhielt. Er sah außerdem dicke Schneeflocken, die eine Windböe davontrug. Es war der 3. Februar; der Schnee hatte lange auf sich warten lassen, dafür schneite es an diesem Morgen mit unversehener Heftigkeit.
    Der Elitepolizist ließ seine Glock Kaliber 45 Automatik ins Holster gleiten und drückte sich den Stetson seiner Polizeitruppe auf den Kopf. Sowie er die Tür geöffnet hatte, fiel ihn der Wind an. Ein Zivilfahrzeug wartete mit laufendem Motor auf der anderen Straßenseite auf ihn. Sein Auspufftopf spuckte eine unglaubliche Menge weißen Qualm aus. Ein junger Mann von der Polizeischule stieg aus, um ihn zu begrüßen, und stammelte eine Höflichkeitsfloskel. Der Chef antwortete mit einem knappen: »Beeilung!«, bevor er die Autotür zuwarf.
    Der
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