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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse
Autoren: Ann Granger
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KAPITEL EINS
    Elizabeth Martin Ross
    Man kann einen schönen Frühlingstag in London nicht mit dem Frühling auf dem Land vergleichen, doch die Stadt gibt sich Mühe. Die staubbedeckten Bäume treiben aus. Über den Dächern hängt ein Leichentuch von feinem Schmutz, jedoch ist es dünner als die schlimme schwarze Decke, unter der die Straßen während des Winters ersticken. Die Fußgänger sind nicht länger bis zu den Augenbrauen vermummt, nun, da sich die beißend kalten und windigen Regenschauer gelegt haben. Die Leute scheinen glücklicher zu sein, während sie eilig ihren Geschäften nachgehen. Nach den letzten Monaten, in denen man gleich einem Gefangenen das Haus kaum verlassen hatte, war all dies pure Verlockung. Ich wischte sämtliche anstehenden Aufgaben beiseite, wies Bessie, unser Mädchen, an, es mir nachzutun, und wir machten uns zu einem langen Spaziergang auf, um die wärmende Sonne auf unseren Gesichtern zu spüren.
    Der Fluss verströmte nicht den üblichen starken Geruch, als wir ihn von Süden, wo wir wohnten, nach Norden überquerten. Wir hatten es Mr. Bazalgette und seinem neuen, verbesserten Abwassersystem zu verdanken, dass wir auf die Taschentücher vor den Nasen verzichten konnten. Ich überlegte, den neuen Damm hinunter bis nach Blackfriars zu spazieren und von dort, sollte ich nicht zu müde sein, weiter bis hin zur hoch aufragenden Festung des Tower. Das war eine recht ordentliche Strecke, sodass wir dort endgültig um- und nach Hause zurückkehren würden. Außerdem fing hinter dem Tower Wapping an mit dem Londoner Hafen und dem berüchtigten St. Katherine’s Dock.
    »Wapping ist keine Gegend, wo eine Dame spazieren gehen sollte«, äußerte Bessie mahnend. »Nicht einmal ich sollte mich dort herumtreiben.«
    Ohne Zweifel hatte sie recht. Wapping zog sich um den Hafen und die anderen Docks herum und pulsierte vor Aktivität. In den Straßen und Wirtshäusern drängten sich Seeleute aller Nationen. Wachszieher boten Opium feil. Billige Herbergen grenzten an Bordelle. Regelmäßig zog man bei Wapping Stairs Leichen aus dem Fluss, und längst nicht alle hatten den Tod durch Ertrinken gefunden. Ich wusste über all dies Bescheid, weil ich mit einem Police Inspector verheiratet bin, wenngleich er glücklicherweise zum Scotland Yard gehört.
    »Vielleicht schaffen wir es gar nicht bis zum Tower«, entgegnete ich Bessie. »Doch wir geben unser Bestes.«
    An diesem Punkt erklang hinter uns eine Stimme. Wir drehten uns um und bemerkten Mr. Tapley, der grüßend seinen Regenschirm schwenkte und durch die Mautstelle hastete. Es machte nicht den Anschein, als würde es heute regnen, doch Mr. Tapley vergaß seinen Regenschirm niemals, wenn er sich zu seinem, wie er es nannte, üblichen Ertüchtigungsspaziergang aufmachte. Er war von kleiner Statur und so dürr, dass es schien, als reichte schon ein Windhauch, um ihn gleich einem achtlos weggeworfenen Zeitungsfetzen davonzuwehen. Trotzdem war er zumeist forschen Schrittes unterwegs. Er trug, was ich im Stillen seine »Uniform« nannte: eine karierte Hose und einen Gehrock, dessen ursprünglich schwarze Farbe längst in einem flaschengrünen Ton schimmerte, ähnlich einer Taftbluse im Sonnenschein. Ein flacher Hut mit geschwungener, breiter Krempe vervollständigte seine Erscheinung. Diese Art Kopfbedeckung war seit ungefähr zwanzig Jahren aus der Mode. Ich erinnere mich, dass mein Vater stets einen ähnlichen Hut aufsetzte, bevor er zu seinen Hausbesuchen aufbrach. Er hatte ihn damals eine ordentliche Stange Geldes gekostet, doch mein Vater hielt die Ausgabe für gerechtfertigt. Ein Arzt täte gut daran, wohlhabend auszusehen, betonte er. Andernfalls könnten seine Patienten das Gefühl haben, er sei nicht angesehen, und nach einem Grund dafür suchen. Tapleys fleckiger, abgerissener Hut hatte seine beste Zeit hinter sich, doch er trug ihn schräg in den Nacken gerückt wie ein junger Mann.
    »Guten Tag, Mrs. Ross! Was für ein wundervoller Tag, nicht wahr?« Bevor ich reagieren konnte, beantwortete er seine Frage selbst. »Ja, ein wunderschöner Tag. Man möchte beinahe singen, so schön ist er. Ich hoffe, Sie sind wohlauf? Und Ihr Gatte ebenfalls?«
    Seine Augen leuchteten hell. Ein breites Lächeln zog tiefe Furchen in sein Gesicht und ließ Ähnlichkeit mit einem Stück Waschleder aufkommen, doch die dabei entblößten Zähne waren angesichts seines Alters in gutem Zustand. Ich schätzte ihn um die sechzig.
    Ich versicherte ihm, dass Ben
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