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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse
Autoren: Ann Granger
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hellen Frühlingstag zu den letzten Personen gehörten, die Thomas Tapley lebend zu Gesicht bekommen und mit ihm gesprochen hatten, bevor er eines gewaltsamen Todes starb.
    Wir erreichten den Tower. Die Sonne war angenehm, ohne dabei heiß zu sein, und wir waren überrascht, dass wir so weit gekommen waren. Wir machten kehrt und wappneten uns für den langen Weg nach Hause. Auf dem Fluss hier herrschte noch mehr Betrieb, sofern das überhaupt möglich war, und die Schiffe waren größer. Dort waren die Kohleschiffe und lieferten den Brennstoff für die Londoner Öfen und Dampfmaschinen. Wir erblickten ein Vergnügungsboot mit den ersten Tagesausflüglern der Saison und in der Ferne sogar die hohen Masten eines Klippers, was mich an Mr. Tapleys Vermieterin denken ließ. Doch es war ein flüchtiger Gedanke, und im nächsten Moment hatte ich den armen Tapley bereits wieder vergessen.
    Wir waren ordentlich erschöpft, als wir die Waterloo Bridge wieder erreichten. Das Ufer hier war stets ein belebter Ort. Es herrschte reger Verkehr von Passanten auf dem Weg zum Waterloo Terminus oder von dort zurück. Viele waren mit der Kutsche unterwegs und noch mehr zu Fuß. Unvermeidbar hatten sich hier Straßenunterhalter und Fliegende Händler eingefunden, die allerlei »nützliche Dinge für die Reise« feilboten, dazwischen immer wieder gewöhnliche Bettler. Sie wagten sich nicht auf die mächtige Brücke – dafür sorgte schon der Wächter an der Mautstelle, der dies niemals gebilligt hätte. Die Polizei vertrieb sie ebenfalls, sofern sie einen von ihnen erwischte. Doch die Missetäter kehrten stets zurück. Selbst ein gelegentlicher Arrest wegen Verkehrsbehinderung schreckte sie nicht ab.
    Bessies scharfe Augen hatten etwas entdeckt. Sie zerrte an meinem Arm. »Missus, dort ist ein Clown. Möchten Sie, dass wir umkehren?«, zischte sie.
    Inzwischen hatte ich ihn ebenfalls gesehen. Er stand vielleicht zehn Meter entfernt an einer Stelle, die es uns unmöglich machte, die Brücke zu überqueren, ohne dicht an ihm vorbeizukommen. Ich erinnerte mich an die kleine Menge, an der wir auf dem Hinweg vorbeigekommen waren. Womöglich hatte sie dem gleichen Kerl zugesehen. Falls ja, so hatten die Zuschauer ihn vor meinen Blicken verborgen. Andernfalls hätte ich ihn wohl kaum übersehen – ein größerer Kontrast zum fadenscheinigen kleinen Mr. Tapley war schwer vorstellbar. Die grell gekleidete Gestalt des Clowns war nicht zu übersehen: ein beleibter Mann mittleren Alters in einem weiten, geflickten, etwas über knielangen Kleid, das den Blick auf Ringelstrümpfe und übergroße Stiefel freigab. Um den Hals trug er eine breite Krause, eine Art Pelerine, die bis über beide Schultern reichte. Über die grell orangefarbene Perücke, deren Locken ihm über die Ohren hingen, hatte er eine merkwürdige, schwer beschreibbare Haube gestülpt. Sie ähnelte einem umgedrehten Eimer, verziert mit allerlei Papierblüten und Büscheln aus ausgefransten Papierstreifen. Das Ganze wurde von einem breiten Band gehalten, das unterhalb seines Doppelkinns zu einer Schleife gebunden war.
    Der Clown jonglierte harmlos mit ein paar Bällen und tat, als würde er den einen oder anderen im nächsten Augenblick fallen lassen, nur um ihn dann doch noch aufzufangen, während er ununterbrochen mit hoher, lauter Frauenstimme unverständliches Zeug vor sich hin plapperte. Seine Possen waren mir egal – es war sein bemaltes Gesicht, das mir Angst machte: ein leichenblass geschminktes Antlitz, tiefschwarz nachgezogene Augen, über denen sich lange Wimpern bogen, und ein grotesker grellroter, riesiger Kussmund, dazu auf jeder Wange ein weiterer runder roter Fleck.
    Ich mochte Clowns noch nie, obwohl dieses Wort gänzlich ungeeignet ist, um das Entsetzen zu beschreiben, das sie in mir hervorrufen. Bei ihrem bloßen Anblick gerate ich in Panik. Mein Herz pocht, und Angst schnürt mir die Kehle zu, sodass ich nicht mehr schlucken kann. Ich bekomme kaum Luft. Man mag mich für töricht halten, doch die Reaktion ist da und lässt sich nicht verleugnen.
    Diese tief verwurzelte Angst rührt von einem Ereignis aus meiner Kindheit her. Ich war damals sechs Jahre alt. Mein Kindermädchen namens Molly Darby überzeugte meinen Vater, dass mir der Besuch eines fahrenden Zirkus, der auf den Feldern am Rande unserer Stadt gastierte, Freude bereiten würde. Mein Vater hatte Bedenken. Als Arzt kannte er die Gefahren, die man einging, wenn man sich in Gruppen von Leuten aufhielt,
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