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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse
Autoren: Ann Granger
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die es mit der Sauberkeit nicht so genau nahmen. Doch zum damaligen Zeitpunkt grassierte kein Fieber in der Stadt, und Molly blieb beharrlich. »Sie wird es mögen, Sir. Glauben Sie mir, alle kleinen Kinder lieben den Zirkus.«
    Was sie meinte war, dass sie den Zirkus liebte.
    Mein Vater drehte sich zögernd zu mir um und fragte mich, ob ich gehen wolle. Hingerissen von Mollys Versicherungen bezüglich der Wunder, die mich im Zirkus erwarteten, sagte ich Ja. Also stimmte mein Vater zu unter der Bedingung, dass Mary Newling, unsere Haushälterin, uns begleitete. Heute denke ich, dass er Mollys Motiven misstraute, die sich lediglich in Begleitung einer erst Sechsjährigen als Anstandsdame vergnügen wollte. Er hatte damit sicherlich recht, denn als Molly hörte, dass Mrs. Newling mit von der Partie sein würde, machte sie ein langes Gesicht. Doch letzten Endes war sie froh, dass wir überhaupt gingen, und sie riss sich zusammen.
    Was Mary Newling angeht, so brauchte es eine ganze Stunde, um sie zu überreden. »Das ist nichts, wo eine anständige Frau hingehen sollte! Es wimmelt dort nur so von Gaunern und Vagabunden, und die Leute tun Dinge, die sie besser sein lassen sollten!« Die letzten Worte waren begleitet von einem scharfen Blick zu Molly.    
    Molly errötete, doch sie blieb standhaft. »Doktor Martin sagt, er ist einverstanden.«
    Also machten wir uns mit einer immer noch murrenden Mary Newling auf den Weg. Ich hüpfte voller Vorfreude dahin. Wenn überhaupt, so hatte Marys Warnung bezüglich der Vagabunden den Ausflug noch aufregender gemacht. Ich wusste nicht, was ein Vagabund war, doch es schien ein faszinierendes Ding zu sein.
    Meine Begeisterung schwand ein wenig, als wir auf einer harten Bank in dem riesigen Zelt unsere Plätze eingenommen hatten. (»Zirkuszelt!«, flüsterte Molly mir zu. »So nennt man es.«) Noch nie zuvor hatte ich mich in einer so riesigen (wie mir schien) Menge aufgehalten. Wir hatten einen Aufpreis bezahlt und durften in der ersten Reihe sitzen, doch hinter uns herrschten Rangeleien und laute Wortwechsel und Geschimpfe, während die Menge hin und her wogte, um besser sehen zu können. Mary Newling machte ein finsteres Gesicht, legte mir die großen, von Arbeit gezeichneten Hände über die Ohren und klemmte meinen Kopf wie in einem Schraubstock ein. Es war sehr heiß und die Luft roch schlecht.
    Vor uns befand sich eine kreisförmige, mit Sägemehl aufgefüllte Fläche, die man, wie Molly wichtigtuerisch erzählte, Manege nannte. Noch war sie leer, doch jeden Augenblick nun würde sie sich mit den atemberaubendsten Sensationen füllen.
    »Wir sind zusammengepfercht wie Heringe!«, meckerte Mary Newling unbeeindruckt. »Und so, wie das hier stinkt, haben viele der Anwesenden keine Ahnung, wozu Wasser und Seife da sind. Wenn jemand ohnmächtig wird, hat er nicht mal eine Gelegenheit umzufallen. Man müsste die arme Seele dort ablegen …« Sie zeigte auf die mit Sägespänen bedeckte Fläche der Manege.
    In diesem Moment nahm eine Kapelle ihren Platz auf dem seitlich gelegenen Podium ein. Sie bestand lediglich aus einem Paar Geigenspielern und einem Trompeter; ein vierter Mann schlug entweder auf eine Trommel oder rasselte mit einem augenscheinlich selbst gebastelten Instrument, einer Stange, an der unterschiedliche Stücke Metall angebracht waren. Es machte einen großartigen Lärm, wenn er das Ende seiner Stange auf den Boden rammte. Ich war mehr als bereit, Mollys Behauptung, dies sei ein richtiges Orchester , Glauben zu schenken.
    Als das Orchester verstummte, schritt ein Gentleman mit ordentlich gestutztem Schnauzbart in die Manege, gekleidet in eine leuchtend rote Jacke und weiße Reithosen. Er schwenkte grüßend seinen Zylinder, hieß uns willkommen und mahnte uns, auf die erstaunlichsten Dinge vorbereitet zu sein. Dann drehte er sich um und deutete mit seiner langen Peitsche auf den hinter ihm liegenden und mit einem Vorhang abgetrennten Eingang.
    Zu meiner Begeisterung wurden die Vorhänge von unsichtbaren Händen beiseitegezogen, und zum Vorschein kamen mehrere wunderschöne weiße Ponys mit wippenden Federbüschen zwischen den Ohren. Als der Mann mit dem Zylinder mit der Peitsche knallte, galoppierten sie im Kreis um ihn herum. Dann kam ein weiteres, phantastisch geschmücktes Pferd hinzu. Die Menge atmete hörbar ein, und stellenweise erklangen Pfiffe, denn auf seinem breiten Rücken ritt aufrecht stehend die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte. Sie war
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