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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Autoren: Gerd Ruge
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Vorbemerkung
    Wer einen Monat in China ist, schreibt ein Buch. Wer ein Jahr in China ist, schreibt einen Artikel. Wer zehn Jahre in China ist, schreibt eine Postkarte, denn er weiß nun, dass er mehr von diesem Land nicht verstanden hat. Das sagten erfahrene englische Kollegen, als ich vor sechzig Jahren zum ersten Mal nach Ostasien kam: Ein junger Reporter mitten im Strom der Ereignisse, fasziniert vom Kampf der Weltmächte um Korea. Damals hätte ich nie geglaubt, dass mehr als ein halbes Jahrhundert danach noch immer kein Friedensvertrag diesen Krieg beendet haben würde.
    Ein Korrespondentenleben später reichen Postkarten der Erinnerung nicht aus, aber ein Buch weiser Wertungen und Vorhersagen geht einem Reporter auch nicht von der Hand. So ist dies kein Versuch, eine Weltgeschichte der Nachkriegszeit zu schreiben oder in persönlichen Memoiren schöne und traurige Erlebnisse eines langen Lebens zu schildern. Es bleiben Ereignisse und Begegnungen, Enttäuschungen und Hoffnungen in einer Zeit, die wir zu Recht oder Unrecht immer noch als Nachkriegszeit empfinden. Die mörderische, erdrückende Diktatur war zerschlagen, die Welt der Sieger aber, auf die wir hofften, immer noch voll von Ungereimtheiten und Ungerechtigkeit. Über die Nachkriegsgrenzen hinweg versuchte ich, andere Länder und Gesellschaften Europas kennenzulernen. Ich verglich, was ich sah, mit den Erlebnissen, die meine Erinnerung an die Jahre im Dritten Reich und im Deutschland der Besatzungszonen geprägt hatten. Meine Neugier brachte mich schließlich im Westen über die USA bis zum Pazifik und nach Alaska und in östlicher Richtung über die gewaltige UdSSR und den Norden Chinas bis zu kleinen russischen Inseln am Ende Sibiriens, die wiederum fast an Amerika stoßen. Dies war auch eine Reise durch die Welt des Kalten Kriegs, und die Herausforderung lag stets darin, sie ohne Schwarzweißmalerei zu schildern, dabei aber auch nicht den Maßstab der Moral und Menschlichkeit aus der Hand zu geben. So kam es, dass Fragen zum Antrieb meiner Lebensreise wurden. Aber jede Antwort schien Anlass für eine neue Frage zu geben. All das passt eben nicht auf eine Postkarte, und so ist entgegen der Prophezeiung meiner Reporterkollegen doch ein Buch daraus geworden.

Sechsmal um die Ecke oder dreimal geradeaus?
    Jugend im Nationalsozialismus 1933–1945
    »Was wollt ihr? Sechsmal um die Ecke oder dreimal geradeaus?«, fragte der bullige, große Junge meinen Freund Karlchen und mich, während wir den beiden Gruppen von Jungen zuschauten, die sich auf der Straße versammelt hatten. Wir, Karlchen, der Sohn des Gemüsehändlers, und ich, Sohn eines Arztes im Arbeiterviertel Hamburg-Hamm, verstanden die Frage nicht. Die Jungen scheuchten uns fort, und wir machten auch, dass wir wegkamen. »Das sind große Jungs, die wollen sich hauen«, sagte meine Mutter später nur.
    »Sechsmal um die Ecke oder dreimal geradeaus« – erst viele Jahre später verstand ich den Sinn der Worte, als ich über die Anfangszeit der Hitlerherrschaft las: Sechsmal um die Ecke, das bezog sich auf das Hakenkreuz. Dreimal geradeaus, das waren die drei Pfeile, das Symbol der Eisernen Front, zu der sich Sozialdemokraten, liberale Demokraten und Leute der Zentrumspartei zusammengeschlossen hatten, um den Nazis auf der Straße – vergeblich – Widerstand zu leisten.
    Keine sechs Jahre alt, wusste ich damals nicht, was damit gemeint war. Zu Hause wurde in der Familie über Politik selten gesprochen, schon gar nicht mit den Kindern. Mein Vater war ein Naturphilosoph, ein Arzt mit künstlerischen Neigungen, der viel las und manchmal aquarellierte, sich jedenfalls nicht über politische Themen ausließ und mit dem ich später nach der Trennung meiner Eltern auch nur wenig Kontakt hatte. In der Schule, einer protestantischen Privatschule, hielt sich der Klassenlehrer auf Distanz zum Nationalsozialismus, Politik war auch hier kein Thema. Von meinen Mitschülern kamen so gut wie keine Fragen, von den Erwachsenen gab es keine Antworten.
    Seltsam, dass dennoch manche Bruchstücke aus den Gesprächen der Erwachsenen in meinem Gedächtnis haften geblieben sind. Einmal, es muss im Jahr 1934 gewesen sein, war ein offizieller Besuch des Führers und Reichskanzlers in Hamburg angekündigt, und ich schaute mit meinem Vater vom Dachboden unseres Hauses auf die Einfallstraße, über die Hitlers Kolonne kommen sollte. »Wenn man ein Zielfernrohr hätte, könnte man ihn von hier erschießen«, sagte mein Vater, als
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