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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell
Autoren: Heinrich Steinfest
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also verliebt, sondern in den Umstand ihres Verborgenseins, als schätze man an einem Gegenstand, ihn nicht ansehen zu müssen.
    Jedenfalls war der Träger dieser Haare am Morgen danach verschwunden gewesen, ohne eine Adresse oder auch nur einen wirklichen Eindruck hinterlassen zu haben. Dafür war Anna schwanger gewesen. Und bloß ein klein wenig unglücklich, mit dieser Schwangerschaft alleine zu sein.
    Eine Behinderung ihres Kindes hatte sich in keiner Weise angekündigt. Auch war immer unklar geblieben, woher der Defekt stammte und ob er sich möglicherweise erst aus dem Geburtsvorgang ergeben hatte. Carls »Unvollkommenheit« fehlte ein richtiger Name. Statt dessen Vermutungen. Was diverse Behandlungsmethoden zur Folge hatte, die sämtlich weite Bahnen um das eigentliche, aber eben namenlose Thema zogen. Ohnehin ging es natürlich nicht darum, einen Unheilbaren zu heilen, sondern eine gewisse Kontrolle über dessen Unheilbarkeit zu erlangen. Mit den Jahren aber ermüdete nicht nur Anna, es ermüdeten auch die Ärzte. Man reduzierte jene Unheilbarkeits-Kontrolle auf ein Minimum und überließ es der Mutter, im Rahmen des Verantwortbaren und der Regeln zu entscheiden, was zu tun oder zu unterlassen war. Und sie entschied sich nun mal – wie unter modernen Eltern so gesagt wird –, das Kind wachsen zu lassen. Was in Carls Fall auch bedeutete, in mancher Hinsicht eben nicht zu wachsen.
    Die Liebe zu diesem Kind konnte größer nicht sein. Nicht wenige sprachen von Affenliebe und Übertreibung. Allerdings vertrat niemand die Ansicht, daß eine solche übertriebene Liebe Carl schadete. Wie denn, bei einem Kind, das nie und nimmer in eine selbstbestimmte Art von Erwachsensein würde entlassen werden können. Zudem schien es, daß auch Anna Gemini ohne ihr Kind vollkommen verloren gewesen wäre, im eigentlichen Sinn obdachlos. Der eine verkörperte den Flaschengeist des anderen, der eine im anderen wohnend.
    Das war nicht das Schlechteste, was zwei Menschen passieren konnte. Freilich barg das Leben auch Schwierigkeiten, die mittels einer solchen Verbundenheit nicht zu lösen waren. Und es nichts nutzte, das Schicksal demütig anzunehmen. Bankkredite beispielsweise sind kleine, blinde, blöde Frösche, die sich von der gottgefälligsten Demut nicht beeindrucken lassen. Sie hocken auf Steinen, halten sich für Prinzen oder Autorennfahrer oder noch Besseres und wollen bezahlt werden.
    Anna, welcher als Alleinerzieherin eines schwerbehinderten Kindes natürlich eine staatliche Unterstützung zustand, war wegen mehrerer banaler Gründe dennoch gezwungen gewesen, einen Kredit aufzunehmen, wie andere Menschen auch, die auf dem Nagelbrett »banaler Gründe« über Frösche stolpern.
    Nach einiger Zeit ergab sich nun die Notwendigkeit, in irgendeiner Form zusätzliches Geld zu verdienen, wollte Anna das Maß der Bescheidenheit, das sie sich und ihrem Kind zumutete, nicht unterschreiten. Und das wollte sie keinesfalls. Sie hielt es für unverzichtbar, ein Auto zu erhalten, mit dem man Tag für Tag Ausflüge unternahm, auch mal nach Italien fuhr, sogar nach Finnland. Carl tat sich schwer in öffentlichen Verkehrsmitteln, in der dröhnenden Kühle der Flugzeuge, in all diesen darmähnlichen Passagierschlünden. Er fühlte sich dann eingeschlossen wie in eine rollende Wassermelone, begann nicht selten zu schreien, erregte die Aufmerksamkeit. Woran sich Anna nie hatte gewöhnen können, an das Gestiere der Herschauenden, und noch weniger an das der Wegsehenden, deren Blicke gewissermaßen die Kurven kratzten und dabei unangenehme Geräusche verursachten. Kratzgeräusche eben.
    Ein Auto war also unbedingt vonnöten. Auch war Anna wichtig, daß sie und der Junge gut gekleidet waren. Nicht auffällig, das nicht. Auch nicht teurer als nötig. Aber doch im Rahmen einer gehobenen Qualität und zeitgenössischen Verankerung. Einer Verankerung, die ihrer beider Alter entsprach: Annas in jeder Hinsicht schlanker Vierundvierzigjährigkeit und Carls Jungenalter, in dem ein jeder Bursche, der gesündeste noch, behindert aussieht. Vierzehnjährige machen einen verbogenen, körperlich instabilen Eindruck. So sportiv können sie gar nicht sein, um nicht doch an mißlungene Architektur zu erinnern. An Gebäude, die im Mischmasch der Stile auseinanderzufallen drohen. Es bedeutet somit eine unnötige Liebesmüh, einem Vierzehnjährigen mittels Kleidung so etwas wie Schick andichten zu wollen. Weshalb der Schick in diesem Alter zur Gänze vom Trend
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