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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell
Autoren: Heinrich Steinfest
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Verständnis und Interesse und nahmen sich viel Zeit, mehr Zeit, als sie sich eigentlich für jemand nehmen durften, dessen Bewerbung sie längst abgehakt hatten. Man schenkte ihr Zeit. Komisch, diese Menschen waren mächtig stolz darauf, Anna Gemini etwas zu schenken, was sie nicht brauchen konnte.
    In dieser Verzweiflung bildete sich nun ein Gedanke, der Anna überraschte und erschreckte, wie es einen überrascht und erschreckt, morgens neben einem völlig fremden Menschen zu erwachen. Ein Schrecken, der noch verstärkt wird, indem dieser fremde Mensch seinerseits mit aller Vertraulichkeit sich nähert.
    Anna Gemini war mit der ihr bislang fernen Idee erwacht, wie es denn wäre, den Beruf einer Auftragsmörderin zu ergreifen. Wobei sie sich bereits schwertat, die richtige Bezeichnung zu wählen. Die für sie richtige. Sie mußte innerlich stottern, weshalb es ihr wesentlich erschien, einen neuen, passenden Namen für diese Sache zu finden. Einen Namen, der etwas von der Poesie besaß, die eine solche Tätigkeit ja auch beinhalten konnte.
    Aber ein solcher Name fand sich nicht. Wen wundert’s?
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Anna Gemini nie auch nur eine Waffe in Händen gehalten. Jemand umzubringen war außerhalb ihrer Gedankenwelt gestanden. Wie auch außerhalb ihres Weltbildes, das als ein katholisch-fortschrittliches für die Ermordung von Menschen aus Verdienstgründen kaum Berechtigungen anbot.
    Aber da war er nun mal gestanden, der Gedanke, ziemlich massiv und nicht ohne Reiz. Sicher auch darum, weil Anna Gemini überzeugt gewesen war, daß der Gedanke ein Gedanke bleiben würde. Was auch sonst?
    Doch der Gedanke erwies sich als ein Kobold.
    Es war dann jener berühmte Film Léon – der Profi mit Jean Reno als schüchternem, Milch trinkenden, melancholischen Killer gewesen, welcher Anna Gemini veranlaßt hatte, sich diesen Beruf anders als widerwärtig zu denken. Im Gegenteil: Der Killer avanciert hier zur absolut sympathischen Figur, welche bezeichnenderweise das mittels der Tötungen verdiente Geld kaum anrührt. Die Figur hat etwas Weihevolles, Christliches, ist allerdings frei von Prophetie. Der Held verkündet nicht, er leidet, leidet mit jedem Blick, der aus feuchten Augen fällt. Wenn er zum Schluß stirbt und einen niederträchtigen Bullen mit sich zieht, stirbt er einen Passionstod.
    So ein Film ist natürlich kein Programm für die Wirklichkeit, umso mehr, als dieser Léon eine zirkusartige Perfektion an den Tag legt und Anna weit davon entfernt war, sich aufwendige gymnastische Kunststückchen vorstellen zu wollen. Obgleich sie ja nicht unsportlich war. Aber nicht unsportlich zu sein, brauchte noch lange nicht zu heißen, an Wänden hochzuklettern und ein Dutzend Scharfschützen auszutricksen. Vor allem aber mußte Anna natürlich bedenken, daß ganz gleich, wozu sie möglicherweise in der Lage sein würde, die Anwesenheit Carls zu berücksichtigen war. Fassadenkletterei und ähnliches kamen also keinesfalls in Frage. Aber Fassadenkletterei war ja ohnehin ein Element eher der Fiktion. Die Fassaden der Wirklichkeit waren viel zu glatt oder zu brüchig oder zu schmal, um eine vernünftige Kletterei zu gewährleisten. Zudem lag der Sinn eines Auftragsmordes ja in einer größtmöglichen Zurückhaltung, die der Dramatik einer jeden Fassade und der diesbezüglichen Kletterei widersprach.
    Um die Sache nun irgendwie anzugehen, mußte Anna die Frage nach der Moral zunächst einmal zur Seite stellen. Statt dessen widmete sie sich dem Handwerk. Sie begann, sich für Waffen und ihren Gebrauch zu interessieren, erwarb einen sogenannten Waffenführerschein und trainierte an einem Schießstand.
    Ein wenig hatte sie erwartet, beziehungsweise erhofft, über ein Talent zu verfügen, von dem sie dann selbst hätte erstaunt sein können. Ein Talent fürs Schießen, das auf einen höheren Plan verwies. Doch das Talent fehlte. Zwar hielt sich der Ekel, den Anna beim Anfassen der Pistolengriffe empfand, in Grenzen, aber die Gabe, mit dem anvisierten Ziel eins zu werden, also mittels des Projektils einen Faden zu spinnen, der sie mit einem gewollten Punkt verband, diese Gabe blieb ihr verwehrt. Wohin sie traf, schien von Faktoren abhängig zu sein, die sie kaum erriet. Immerhin war die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht so enorm, daß Anna davon hätte ausgehen müssen, später einmal alles und jeden zu treffen, nur das ausgewählte Opfer nicht. Auch nahm ihre Unsicherheit nach und nach ab, blieb aber
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