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Das 4. Buch des Blutes - 4

Das 4. Buch des Blutes - 4

Titel: Das 4. Buch des Blutes - 4
Autoren: Clive Barker
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Leibregime
    Jedesmal, wenn Charlie George erwachte, fielen seine Hände in leblose Starre.
    Vielleicht war es ihm wieder zu heiß unter den Decken, und er mußte eine Lage davon auf Ellens Bettseite hinüberwerfen.
    Vielleicht stand er sogar, noch im Halbschlaf, auf und tappte in die Küche, um sich ein großes Glas eisgekühlten Apfelsaft einzuschenken. Dann zurück zum Bett, neben Ellens sanften Halbmond schlüpfend, um den Schlaf über sich hintreiben zu lassen. Sie warteten dann ab, bis seine Augen zugeflackert waren und sein Atem regelmäßig wie ein Uhrwerk ging und sie sicher sein konnten, daß er fest schlief. Erst dann, mit der Gewißheit, daß das Bewußtsein ausgeschaltet war, wagten sie es, ihr geheimes Leben wiederaufzunehmen.
    Schon seit Monaten wachte Charlie jetzt mit einem unangenehmen Schmerz in seinen Händen und Handgelenken auf. »Geh zum Arzt«, sagte ihm Ellen regelmäßig, ohne Mitgefühl wie immer. »Wieso gehst du denn nicht zum Arzt?«
    Ärzte waren ihm zutiefst zuwider, deswegen nicht. Welcher halbwegs vernünftige Mensch würde jemandem trauen, der aus dem Herumstochern in Kranken einen Broterwerb machte?
    »Wahrscheinlich hab’ ich zu hart gearbeitet«, sagte er sich.
    »Wär’ möglich«, brummelte Ellen.
    Das war doch sicher die plausibelste Erklärung. Er war Verpacker von Beruf; den ganzen Tag über arbeitete er mit den Händen. Sie waren überstrapaziert. Das war nur natürlich.
    »Hör auf, dich verrückt zu machen, Charlie«, sagte er eines Morgens seinem Spiegelbild, während er sich etwas Leben ins Gesicht klatschte, »deine Hände sind unbegrenzt einsatzfähig.«

    Und so lief Nacht für Nacht dasselbe Programm ab. Es sieht folgendermaßen aus:
    Die Georges schlafen, Seite an Seite in ihrem Ehebett. Er auf dem Rücken, sanft schnarchend; sie zusammengerollt zu seiner Linken. Charlies Kopf ist auf zwei dicke Kissen gestützt. Sein Unterkiefer hängt leicht herunter, und unter dem aderndurchschossenen Schleier der Lider verfolgen seine Augen irgendein geträumtes Abenteuer. Heute nacht womöglich als Brandbekämpfer, vielleicht ein heroischer Vorstoß mitten in ein brennendes Bordell. Zufrieden träumt er, manchmal stirnrunzelnd, manchmal grinsend.
    Unter dem Bettuch bewegt sich etwas. Langsam, vorsichtig, so scheint es, kriechen Charlies Hände aus der Wärme des Bettes und ins Freie. Auf dem wogenden Leib verhaken sich ihre Zeigefinger zur Begrüßung ineinander wie nagelbewehrte Köpfe. Sie umklammern einander wie sich in die Arme fallende Kameraden. Charlie stöhnt im Schlaf. Das Bordell ist über ihm zusammengestürzt. Augenblicklich strecken sich die Hände flach auf ihm aus, geben sich ganz unschuldig. Einen Moment später, sobald sich sein gleichmäßiger Atemrhythmus wieder eingestellt hat, beginnen sie ernstlich ihre Debatte.
    Ein zufälliger, am Fußende vom Bett der Georges sitzender Beobachter würde diesen Austausch wohl für das Symptom irgendeiner geistigen Störung halten: so wie Charlies Hände zucken und aneinander zupfen, jetzt sich gegenseitig streicheln, jetzt miteinander zu kämpfen scheinen. Aber offenkundig liegt eine gewisse Gesetzmäßigkeit oder kodierte Abfolge in ihren Bewegungen, und sei sie noch so spasmodisch. Man könnte fast glauben, daß es sich bei dem Schlummernden um einen Taubstummen handle, der im Schlaf redet. Aber die Hände artikulieren keine erkennbare Zeichensprache, noch versuchen sie, mit irgend jemandem außer sich selbst zu kommunizieren.
    Dies ist eine heimliche Zusammenkunft, deren einzige Beteiligte Charlies Hände sind. Dort werden sie bleiben, die ganze Nacht lang, auf seinem Magen thronend und Ränke schmiedend gegen das Leibregime.
    Charlie blieb nicht völlig in Unkenntnis über den Aufruhr, der an seinen Handgelenken gärte. Er hatte irgendwie den vagen Verdacht, daß etwas mit seinem Leben nicht ganz in Ordnung sei. Zunehmend kam es ihm so vor, als sei er von der allgemeinen Erfahrung abgeschnitten; als werde er in den täglichen (und nächtlichen) Ritualen des Lebens immer mehr zum Zuschauer, statt an ihnen noch wirklich zu partizipieren.
    Man nehme sein Liebesleben, zum Beispiel. Ein großartiger Liebhaber war er nie gewesen, aber ebensowenig hatte er das Gefühl, sich für irgend etwas entschuldigen zu müssen. Ellen schienen seine Aufmerksamkeiten zu genügen. Aber neuerdings fühlte er sich vom Akt abgetrennt. Er sah seinen Händen zu, wie sie über Ellen hinwanderten, sie mit aller ihnen verfügbaren intimen
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