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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell
Autoren: Heinrich Steinfest
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ersetzt wird, dessen soziale Komponente darin besteht, unabhängig von den einzelnen Körpern oder deren jeweiliger Verbogenheit zu bestehen. Die Kostenfrage ist leider Gottes eine andere. Die Kostenfrage führt die ganze Sache auf das übliche Niveau zurück.
    Jedenfalls lief Carl nicht wie jemand herum, dessen Behindertenstatus man bereits allein an seiner Hose oder seinem Hemd hätte ablesen können, ganz abgesehen von den Brillen oder der Frisur. Nein, Carls Kleidung entsprach seiner Zeit und seinem Alter, entsprach jener Ästhetik des Amöbalen, der bis zu den Kniekehlen abgesackten Hosenböden, dieser ganzen textilen Expansion, hinter welcher der Körper – fett oder schlank oder verschwindend – etwas Geisterhaftes besaß. Daß diese Jungs zur Sexualität fähig waren, oder demnächst fähig sein würden, war nicht wirklich glaubwürdig. Ihr pubertierender Leib schien sich in diesem Outfit zu erschöpfen, diesen weiten Hosen und diesen Turnschuhen, die aussahen wie geschwollene Backen, diesen flatterigen Gymnastikjacken und kopfschluckenden Wollmützen. Samt Accessoires, die als nahe und ferne Trabanten den vierzehnjährigen Körper wie einen bloß theoretischen Planeten begleiteten. Einen Planeten ohne wirklichen Sex.
    Auch Anna war ohne Sex, nur daß man ihr das nicht ansah. Gut, sie war ein wenig der verhungerte Typus, der Typus mit Schatten unter den Augen und kantiger Nase und einem eher kleinen Busen und dünnen, blonden Haaren und einer insgesamt verbitterten Erscheinung. Aber das war nun mal auch die Art von Frau, die hervorragend in hautfreundliche Sportunterwäsche paßte und somit in eine Kleidung, die sehr viel mehr die Phantasie der Männer beschäftigte als jene sogenannte Reizwäsche, deren Bedeutung auf dem Irrtum beruhte, die Farbe Rot habe in der Erotik dieselbe Bedeutung wie in der Politik und der Malerei. Und auf dem Irrtum, man könnte den Liebreiz einer gestickten Tischdecke auf einen Büstenhalter übertragen. Die Oberbekleidung, die Anna Gemini trug, stellte eigentlich nichts anderes dar als ein Anführungszeichen, das jene Sportunterwäsche gleichzeitig verdeckte, aber eben auch apostrophierte. Wobei die Tragebänder des BHs im Falle sommerlicher oder festlicher Kleidung des öfteren von der Verdeckung ausgenommen waren und solcherart die Nacktheit bloßer Schultern noch betonten, ja, sie verdoppelten. Doppelt nackt, das war wie weißer als weiß, unmöglich zwar, aber gut vorstellbar.
    Darum ging es Anna. Jene Nachlässigkeit zu vermeiden, mit der nach allgemeiner Vorstellung alleinstehende Mütter mit ihren behinderten Kindern durch die Gegend liefen. Statt dessen kultivierte sie den strengen Reiz einer dürren, eleganten Blondine und stattete ihren Sohn soweit als möglich mit passender Markenware aus. In dem Maße, in welchem es der mittelständischen Lebenswelt entsprach. Oder auch der kleinbürgerlichen. Die Zeiten waren vorbei, da man das wirklich auseinanderhalten konnte. Die Stände waren verschmolzen wie die Schichten heller und dunkler Schokolade.
    Diese Maxime Annas, und einiges andere, führte nach dem ersten Jahrzehnt ihrer Mutterschaft, in dem sie mit ihrem Kind wie im Fraßgang einer Raupe gelebt hatte, dazu, ihr finanzielles Problem in den Griff bekommen zu wollen und sich um einen Job zu bemühen. Einen Job natürlich, bei dem sie Carl dabeihaben konnte. Sie vertrat den Standpunkt, daß wenn Tausende von Arbeitnehmern ihre Haushunde mit ins Büro nahmen, es doch wohl möglich sein müßte, von einem Zehnjährigen begleitet zu werden, dem völlig die Möglichkeit fehlte, durch penetrante Altklugheit irgendwelche Arbeitsprozesse zu stören. Aber da hatte sie sich getäuscht. Ein Zehnjähriger sei kein Haushund, sagten die Leute, bei denen sie vorsprach. Das war so richtig wie verlogen. Man wollte sich ganz einfach Probleme ersparen, von denen schwer zu sagen war, worin genau sie hätten bestehen können. Was machte so ein behindertes Kind? Wozu war es fähig? Und inwieweit widersprach sein Verhalten jeglicher Bürosituation? Während ja zumindest kleine Hunde sich in die meisten Bürosituationen wie in eine letzte, dackelförmige Lücke einfügen ließen.
    Verzweifelte Menschen stellen naturgemäß verzweifelte Überlegungen an. Und verzweifelt war Anna nun mal gewesen, nachdem sich eine Jobmöglichkeit nach der anderen zerschlagen hatte. Und zwar im Rahmen größter Freundlichkeit. Die meisten ihrer Gesprächspartner verhielten sich ausgesprochen aufgeklärt, zeigten
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