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Reigen des Todes

Reigen des Todes

Titel: Reigen des Todes
Autoren: Gmeiner-Verlag
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I.
    Ein steif gefrorener Finger ragte aus dem Bündel Fetzen, das unmittelbar unter der Stefaniebrücke 1 lag. Der Finger zeigte flussabwärts, wo auch die grauen Fluten des Donaukanals unablässig hinstrebten. Auf der Wasseroberfläche trieb allerlei Unrat, vereinzelt waren Eisschollen dabei.
     
    Der Rücken schmerzte. Er wälzte sich auf seinem harten Lager von einer Seite auf die andere, doch in jeder Stellung tat ihm das Kreuz weh. Er rollte sich ein wie ein Fötus und stieß dabei mit der Kniescheibe an einen Stein. Stechender Schmerz durchfuhr ihn, mit einem Schlag war er wach. Die Glieder steif vor Kälte. Lumpen, mit denen er sich zugedeckt hatte, waren während des Schlafs fortgerutscht. Seine zerschlissene Kleidung bot wenig Schutz gegen die feuchte Kälte der Februarnacht, genauso wenig wie sein Schlafgemach, ein etwa anderthalb Meter hoher, tunnelartiger Schacht, in dem sich Steinhaufen, einige Fetzen sowie drei weitere Obdachlose befanden. Nachdem an ein Einschlafen nicht mehr zu denken war, kroch Anastasius Schöberl auf allen vieren in Richtung Schachtausgang. Dabei stieß er dem ›Zigeuner‹ ans Schienbein, was dieser ihm mit einem gegrunzten Fluch dankte. Schöberl stieg aus dem Schacht ins Freie, musste sich aber sofort an die Wand lehnen, so schwarz wurde ihm vor den Augen. Nach einigen Minuten verging das Schwindelgefühl und nagender Hunger begann in seinen Eingeweiden zu rumoren. Die Restsäure des Fusels, den er am Vorabend gesoffen hatte, brannte in seinem Schlund, ein Feuer, das keine Wärme spendete. Noch immer benommen vom Schlaf, taumelte er das gemauerte Flussufer des Donaukanals entlang. Dann lenkte er seine Schritte ans träge dahinfließende Wasser, knöpfte sich die Hose auf und verrichtete plätschernd seine Notdurft. Der Bogen des Urins dampfte ebenso wie sein Atem. Der weiße Hauch wurde vom eisigen Wind, der den Donaukanal entlangpfiff, verweht. Er knöpfte sich den Hosenladen zu und bemerkte ein paar Schritte weiter, am Rande des Wassers, ein Bündel Fetzen. Hatte jemand Kleidungsstücke oder vielleicht etwas Kostbares, das zur Tarnung in Lumpen gehüllt war, verloren? Schöberl wankte zu dem Bündel, hob es auf und erstarrte: Ihm ragte ein blau gefrorener Finger entgegen. Vorsichtig schob er die Tücher rund um den Finger beiseite und sah, dass es sich nicht nur um einen Finger, sondern um einen ganzen Unterarm handelte. Entsetzt unterdrückte er den ersten Impuls, das Bündel fallenzulassen. Er starrte es eine Zeit lang an. Nein, zur Polizei würde er damit nicht gehen …
    Aber an eine Zeitung könnte er sich wenden; an den Redakteur Goldblatt, den er aus längst vergangenen Tagen kannte. Wenn er dem seinen Fund zeigen und ihm eine Räubersg’schicht auftischen würde, wäre vielleicht ein Lohn von ein paar Hellern möglich.
     
    Schneeregen setzte ein und der Aufstieg zur Stefaniebrücke wurde zu einem rutschigen Abenteuer. Als er dies keuchend geschafft hatte, wankte er über die Brücke in den 1. Bezirk. Hier herrschte dichter Verkehr: Fiaker, Einspänner, Pferdefuhrwerke und hin und wieder ein knatterndes Automobil. Schöberl kämpfte immer noch mit einer Ohnmacht. Er musste höllisch aufpassen, nicht unter die Räder zu kommen. Sein Ziel waren die prachtvollen Bürgerhäuser, die im 1. Bezirk den Donaukanal säumten. Aus ihren Fenstern strahlte warmes Licht in das düstere Grau der Morgendämmerung. Wehmütig und halb wahnsinnig vor Hunger dachte Anastasius Schöberl an seine einstmalige bürgerliche Existenz als Fleischergeselle. Zwar hatte er nie in einer modernen, geräumigen Wohnung in der Innenstadt logiert, aber immerhin in einer Wohnung mit Zimmer, Küche und Kabinett in der Gumpendorfer Vorstadt. Es war ein gemütliches Zuhause; mit einem riesigen Herd in der Küche, den er abends mit Kohle fütterte und der bis in den Morgen hinein Wärme spendete. Wenn er in der Früh einige Holzscheite nachlegte, verbreitete der Herd sehr bald wieder wohlige Wärme. Außerdem konnte man dann Kaffee kochen und Wasser für die Morgentoilette wärmen. Zu herrlich duftendem Bohnenkaffee gab es immer ein dickes Stück Wurst. Schließlich war er die rechte Hand des Fleischermeisters gewesen. Ein wohlhabender Mann, dem nicht nur die Fleischhauerei, sondern das gesamte Haus gehörte. Hier hatte Schöberl auch seine Wohnung gemietet.
     
    Als er die Brücke überquert hatte und in das Verkehrsgewühl des noch stärker befahrenen Franz Josefs Quais wankte, riss ihn das laute
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