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Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Titel: Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
Autoren: Kenneth Oppel
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hat«, bemerkte Mutter, »bin ich zufrieden.«
    »Er wäre doch ein Dummkopf, wenn er bliebe«, sagte Henry. »Sein Haus ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt und in seinem Rollstuhl fällt er immer auf. Man würde ihn doch sofort fassen.«
    Es kribbelte mir im Nacken. Es war zwar kindisch, trotzdem fragte ich mich, ob der Alchemist nicht irgendein dunkles Wunder zustande gebracht hatte, um sich unsichtbar zu machen. Ich stellte ihn mir bei Nacht vor, wie er sich durch die Straßen zog, wobei seine Schuhe und Kleidung über die Pflastersteine schleiften – sich immer weiter zum Schloss Frankenstein zog.
    Später am Tag stand ich mit Elizabeth im Hof, um Henry zu verabschieden. Ich schüttelte ihm die Hand, dann umarmte ich ihn.
    »Du hast das Herz eines Löwen und gleichzeitig das eines Poeten«, sagte ich.
    Er schüttelte lächelnd den Kopf, doch ich wusste, dass ihm das gefiel.
    »Verglichen mit euch war ich nicht besonders tapfer«, meinte er. »Ich bin mit nur wenig Mut ausgestattet, aber es tut gut, das zu hören.«
    »Unsinn«, sagte Elizabeth und küsste ihn auf die Wange.
    Er wurde rot.
    »Auf Wiedersehen, Henry«, sagte ich.
    »Auf Wiedersehen«, sagte auch er. »Und versucht, keine Dummheiten zu machen, solange ich weg bin.«
    »Schreib uns ein neues Stück«, forderte ich ihn auf, »das wir alle zusammen aufführen können, ehe der Sommer vorbei ist.«
    »Mache ich.«
    »Der Doktor meint, dass Narben zurückbleiben werden«, erzählte mir Elizabeth. »Ich hätte nie gedacht, dass ich eitel bin, aber ich bin eitel, und es ärgert mich mehr, als ich sagen kann.«
    Wir waren in der Bibliothek und das Sonnenlicht ergoss sich durch die Fenster. Konrad hatte bisher seine Mahlzeiten im Bett eingenommen, doch heute hatte er angekündigt, er werde im Laufe des Tages aufstehen und mit uns zu Abend essen. Dr. Murnau wollte nur noch einen Tag bleiben und hatte mitgeteilt, dass Konrads Fortschritte sehr ermutigend seien.
    An diesem Morgen hatte er meine Hand noch einmal untersucht und Polidoris Arbeit mit dem Meißel gelobt. Es gab keinerlei Anzeichen für eine Infektion. Er meinte, er kenne ein paar sehr gute Handwerker, die mir ein paar Holzfinger anfertigen würden, die ich an die Hand schnallen könnte.
    Zu Elizabeth hatte er gesagt, sie könne den Verband von ihrer Wange entfernen.
    »Es werden nur ganz schwache Narben sein«, sagte ich und betrachtete sie näher. »Hauchzart. Man muss schon wissen, dass sie da sind, um sie überhaupt zu bemerken.«
    Sie lachte bitter. »Sie werden klar zu sehen sein. Jetzt kann Konrad mich nicht mehr lieben.«
    Ich musste laut auflachen und der Kummer in ihrem Gesicht schlug in Ärger um.
    »Was ist daran so lustig?«
    »Elizabeth«, antwortete ich, »Konrad wäre der größte Dummkopf der Welt, wenn er meinte, dass ein paar Kratzer deine Schönheit mindern könnten. Es kann in der ganzen Republik keine reizendere junge Frau geben als dich. Ich würde sagen, in ganz Europa, aber da habe ich noch nicht alle jungen Frauen gesehen.«
    Sie lächelte, schlug die Augen nieder und die Farbe stieg ihr in die Wangen. »Danke, Victor. Das ist sehr lieb von dir.«
    Ich verstand nicht, warum, aber ich fand, das diese Narben etwas Unwiderstehliches an sich hatten. Die Krallen eines Luchses hatten ihre Wangen zerkratzt und ihre Zeichen hinterlassen. Und es war auch ein Zeichen für Elizabeths wilde Natur. Das konnte sie nicht verstecken – und der Wolf in mir fand sie dadurch noch viel begehrenswerter. Aber ich wollte nicht mehr in dieser Weise an sie denken. Ich hatte damit abgeschlossen, das haben zu wollen, was meinem Bruder gehörte. Mein Entschluss war so fest wie Eisen.
    »Im Fahrstuhl«, sagte sie übergangslos. »Bei Polidori. Im Dunkeln.«
    Ich blickte aus dem Fenster, wusste genau, wovon sie sprach. »Hm? Was ist damit?«, fragte ich sorglos.
    »Der Kuss war für dich.«
    Ich sagte nichts – hatte nichts zu sagen. Insgeheim war ich entzückt, doch ich wünschte, sie hätte mir das nie erzählt. Denn ich befürchtete, diese Worte könnten in meinem teuflischen Herz auskeimen und Ranken treiben und vielleicht sogar meine eiserne Entschlossenheit knacken.
    Ich lächelte nur, und ich musste meinen ganzen Willen aufbieten, um die Füße zu heben und den Raum zu verlassen.
    In Decken gehüllt saßen wir auf dem Balkon, der klare Abend war kühl. Nur wir zwei. Über den Berggipfeln im Westen war noch ein leichtes Blau vom Sonnenuntergang zu sehen.
    »Es tut mir leid«, sagte ich.
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