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Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Titel: Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
Autoren: Kenneth Oppel
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den Berg hinauf.
    Es gab keinen Gottesdienst, obwohl Elizabeth meine Eltern angefleht hatte, einen abzuhalten. Es würde keine Totenmesse geben, keine von einem Priester gesprochenen tröstlichen Worte und hilfreiche Versprechungen.
    Wir trugen alle schwarze Trauerkleidung. Elizabeth und ich hatten Ernest zwischen uns auf der Bank. Uns gegenüber saßen Vater und Mutter mit William auf den Knien.
    Angeführt wurde die Prozession vom Leichenwagen mit Konrads Sarg. Hinter uns kamen Dutzende von Kutschen und Wagen mit unseren Bediensteten und Freunden.
    Die Reise war lang. Seit Jahrhunderten schon beerdigte die Familie Frankenstein ihre Toten hoch oben in den Bergen außerhalb der Stadt. Die Gruft war eine gewaltige Höhle, die mit den Jahren immer tiefer in die Seite eines Gletschers getrieben worden war. Sogar im Sommer war sie kälter als der Tod und die Sarkophage mit ihren Insassen waren auf ewig mit Eis und Schnee versiegelt.
    Als Kinder hatten wir die Gruft nur ein Mal gesehen, als Vaters jüngerer Bruder bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war. Konrad, Elizabeth und ich hatten mit blauen Lippen schweigend dagestanden, als der Sarg in seinen steinernen Sarkophag hinabgelassen wurde. Später erzählte uns Vater dann im Unterricht, dass ein Leichnam in dieser Gruft wunderbarerweise erhalten bleibe, da die Temperatur niemals über den Gefrierpunkt steige. Keine Würmer und Käfer suchten den Toten heim, kein Wasser ließe ihn verfaulen und kein Element ihn zerfallen.
    Konrad. Und wenn ich es nun war, der dich umgebracht hat?
    Es war fast Mittag, als wir die Gruft erreichten.
    Unser Diener klappte für uns die Stufen der Kutsche herunter. Ich war froh über meinen Umhang, denn die Luft war sehr kalt. Der Weg zum Eingang der Gruft war bereits von Eis und Schnee befreit worden, doch überall um uns herum glitzerte der Schnee auf den Berghängen schmerzhaft und fast schon grausam in der Sonne.
    Ich blickte kurz in die Dunkelheit der Gruft, dann trat ich zu Vater und den anderen Sargträgern hinter den Leichenwagen. Ich war froh, dass Henry auch unter ihnen war. Vorsichtig zogen wir den Sarg heraus.
    Obwohl wir auf jeder Seite zu dritt waren und im Sarg nur mein Bruder lag, erschien mir der Sarg, als ich den Griff fasste und anhob, so schwer wie die Erde selbst. Ich konnte mir nichts Schwereres denken.
    Es kostete mich alle Kraft, den Griff zu halten, ihn nicht loszulassen. Als wir dann auf die Gruft zugingen, dachte ich einen Moment, ich würde ohnmächtig.
    Innen waren Fackeln angezündet und flackerten in orangefarbenem Licht. Ich zitterte beim Überschreiten der Schwelle. Uralte Wände aus Stein und Eis umgaben mich. Mächtige Sarkophage reihten sich rechts und links, Jahrhunderte von Vorfahren der Frankensteins.
    Und direkt vor uns ein offener Sarkophag.
    Mein Schritt zauderte. Wenn wir Konrad da hineinlegten und den Deckel schlossen, wie sollte er dann noch atmen?
    Ich taumelte weiter. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, aber ich half, den Sarg über den Rand des Sarkophags zu heben und ihn darin niederzulassen.
    Es gab keinen Priester oder Pfarrer, der die Feierlich-keiten leitete, und so standen wir alle schweigend da. Die Gruft war voller Menschen und draußen drängten sich noch mehr.
    Mühsam schlurfte ich zurück zu meiner Mutter und Elizabeth, deren Hand sich in meine schob und sie drückte.
    Ich dachte an Konrad in seinem Sarkophag. Niemals würde er altern und doch würde sein perfekter Körper nutzlos für ihn sein.
    Ich versuchte zu beten – Lieber Gott, bitte –, aber es ging nicht.
    Mein Vater trat alleine vor und schob den steinernen Deckel an seinen Platz – und erst da weinte ich.
    Konrad war ohne mich in die Neue Welt gegangen, und ganz egal, wie schnell ich nach Westen rannte, wie nah ich den Sonnenuntergängen blieb, ich würde ihn niemals einholen. Meine Tränen waren wuterfüllt – ich hatte ihn im Stich gelassen.
    Ich hatte versucht, ihn zu retten, doch ich war nicht klug genug gewesen oder sorgfältig genug.
    Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen.
    Und gab mir selbst ein eisiges Versprechen.
    Ich versprach, dass ich meinen Bruder wiedersehen würde – auch wenn das bedeuten sollte, dass ich jedes geheime Gesetz dieser Erde aufdecken müsste, um ihn zurückzubringen.
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