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Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Titel: Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
Autoren: Kenneth Oppel
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das Ungeheuer, und erschrocken wandte ich mich um – nur um seine letzte Todeszuckung zu sehen. Im selben Augenblick zog mein Bruder sein Schwert.
    »Du wirst mich nicht betrügen!«, schrie er.
    Hin und her wogte unser Kampf auf der Felsplatte. Wir waren beide stark, hatten breite Schultern und gestählte Muskeln vom vielen Kämpfen. Mein Bruder war schon immer der bessere Schwertkämpfer gewesen, und mit meinem gebrochenen Arm war ich noch mehr im Nachteil, doch ich hatte die Entschlossenheit einer Schlange und das machte mich stark. Es dauerte nicht lange und ich hatte ihm das Schwert aus der Hand geschlagen und ihn auf die Knie gezwungen. Obwohl er mich mit meinem eigenen Gesicht anblickte und mich mit meiner eigenen Stimme anflehte, versenkte ich mein Schwert in sein Herz und nahm ihm das Leben.
    Ich stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, schaute zum Mond auf und spürte, wie der kühle Frühlingswind mein Gesicht liebkoste.
    »Jetzt werde ich alle Reichtümer der Welt besitzen«, sagte ich. »Und endlich bin ich allein .«
    Einen Moment lang war nur das leichte Rauschen des Windes über dem Gletschersee zu hören – dann brach Applaus aus.
    Ich stand auf dem breiten Balkon und wandte mich dem Publikum zu, das uns, verteilt auf mehrere Stuhlreihen, aus dem Ballsaal zugesehen hatte. Da saßen Mutter und Vater mit ihren Freunden, deren begeisterte Gesichter in warmes Kerzenlicht getaucht waren.
    Mein Bruder Konrad sprang auf die Füße und beide rannten wir zu dem zusammengebrochenen Ungeheuer und halfen unserer Cousine aus ihrem Kostüm heraus. Sie schüttelte ihr üppiges bernsteinfarbenes Haar und ihre gebräunte Haut glühte im Schein der Fackeln. Der Applaus wurde noch lauter. Wir drei nahmen uns an der Hand und verbeugten uns.
    »Henry!«, rief ich. »Komm zu uns!« Wir winkten ihm zu. Zögernd löste sich unser bester Freund, ein großer Kerl mit blondem Haarschopf, aus seiner Ecke bei den großen Glastüren, wohin er sich verkrochen hatte.
    »Meine Damen und Herren«, verkündete ich dem Publikum, »Henry Clerval, unser glänzender Dramatiker!«
    »Bravo!«, rief mein Vater und der ganze Saal stimmte mit ein.
    »Elizabeth Lavenza als das Ungeheuer«, sagte Konrad mit einer schwungvollen Armbewegung. Unsere Cousine machte einen sehr hübschen Knicks. »Ich bin Konrad. Und der hier«, er sah mich mit einem verschmitzten Grinsen an, »ist der Held unserer Geschichte, mein übler Zwillingsbruder Victor!« Und nun erhoben sich alle von ihren Stühlen und bedachten uns mit lang anhaltendem Beifall.
    Der Applaus wirkte berauschend auf mich. Spontan sprang ich auf die Balustrade, um mich erneut zu verbeugen, und streckte die Hand nach Konrad aus, damit er zu mir kam.
    »Victor!«, hörte ich meine Mutter rufen. »Komm sofort da runter!«
    Ich achtete nicht auf sie. Die Balustrade war breit und stabil, und schließlich war es auch nicht das erste Mal, dass ich darauf stand, doch das hatte ich immer heimlich gemacht, denn der Höhenunterschied war beachtlich: mehr als fünfzehn Meter bis hinunter zum Ufer des Genfer Sees.
    Konrad nahm meine Hand, aber anstatt meinem Ziehen nachzugeben, zog er seinerseits und versuchte mich herunterzuholen. »Du machst unserer Mutter Angst«, flüsterte er.
    Als ob Konrad selbst nicht auch oft auf der Balustrade gespielt hätte!
    »Ach, komm schon«, sagte ich. »Nur eine Verbeugung!«
    Wir hielten uns an der Hand, und ich merkte, wie sich sein Griff festigte, um mich herunter auf den Balkon zu ziehen. Ich war plötzlich wütend auf ihn, weil er so vernünftig tat und mich nicht den Applaus genießen ließ – und ich mir plötzlich vorkam wie eine kindische Primadonna.
    Ich riss meine Hand los, aber zu heftig und zu schnell. Ich spürte, wie ich das Gleichgewicht verlor. Bereits behindert von meinem schweren Umhang, machte ich einen Schritt nach hinten. Nur dass da nichts war, wohin ich treten konnte.
    Und plötzlich fiel ich mit wild um mich schlagenden Armen. Ich versuchte, mich nach vorne zu werfen, doch es war schon zu spät, viel zu spät.
    Ich drehte mich im Fall, sah die dunklen Berge und den noch dunkleren See und direkt unter mir das felsige Ufer – und meinen Tod, der auf mich zuraste, um mich in Empfang zu nehmen.
    Ich stürzte hinab in die zerklüftete Tiefe.
    Doch ich kam nie dort an, denn ich landete hart auf dem schmalen Dach über einem Bogenfenster des nächsttieferen Stockwerks unseres Schlosses. Schmerz schoss mir durch das linke Bein, als ich dort
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