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Welt im Fels

Welt im Fels

Titel: Welt im Fels
Autoren: Harry Harrison
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1.
     
    Chimal rannte in panischer Furcht. Der Mond war noch hinter den Felswänden im Osten des Tales verborgen, aber ihre Ränder wurden schon von seinem Licht versilbert. Wenn er erst aufgegangen wäre, würde Chimal so leicht zu sehen sein wie die heilige Pyramide hier draußen in den grünen Maisfeldern. Warum hatte er das nicht bedacht? Warum war er das Risiko eingegangen? Der Atem schnitt ihm in die Kehle, während er keuchend weiterrannte, sein Herz schlug wie eine große Trommel in seiner Brust. Sogar die frische Erinnerung an Quiauh konnte die entsetzliche Angst nicht verscheuchen – warum hatte er das getan?
    Wenn er nur den Fluß erreichen konnte, er war so nahe. Seine gewebten Sandalen sanken in dem trockenen Boden ein, während er dem Wasser und der Sicherheit entgegenstrebte.
    Ein fernes Zischen durchschnitt die Stille der Nacht, und Chimals Beine versagten. Zu Tode erschrocken sank er zu Boden. Es war Coatlicue, die Schlangenköpfige; er war des Todes!
    Während er dalag und sich mit den Händen in den kniehohen Maisstauden verkrallte, versuchte er seine Gedanken zu ordnen, um den Sterbegesang zu sprechen. Er hatte das Gesetz gebrochen, also würde er sterben; ein Mensch kann den Göttern nicht entgehen. Das Zischen kam immer näher und schnitt ihm durch den Kopf wie ein Messer. Mit großer Anstrengung murmelte er die ersten Worte des Gesangs, während der Mond über den Felsenrand auftauchte und das Tal mit weichem Licht übergoß. Chimal blickte über die Schulter zurück, und dort waren seine tief eingedrückten Fußspuren. Quiauh – sie wird auch dich finden! Wir sind verloren!
    Er war schuldig, und für ihn gab es kein Entrinnen. Das Tabu war gebrochen worden, und Coatlicue die Schreckliche kam, um ihn zu holen. Es war allein seine Schuld; er hatte Quiauh seine Liebe aufgezwungen. Es stand geschrieben, daß Fürsprache bei den Göttern möglich war, und wenn sie keine Beweise sähen, würden sie ihn vielleicht als Opfer annehmen, und Quiauh könnte am Leben bleiben. Seine Knie waren weich vor Angst, aber er raffte sich auf und rannte auf das Dorf Quilapa zu, das er erst kurz zuvor verlassen hatte.
    Die Todesangst trieb ihn weiter, obwohl er wußte, daß es kein Entrinnen gab, und jedesmal hörte er das laute Zischen etwas näher, bis plötzlich sein vor ihm herlaufender Schatten von einem größeren verschlungen wurde und er hinfiel. Die Angst lähmte ihn. Er mußte gegen seine Muskeln ankämpfen, um den Kopf zu drehen und seine Verfolgerin anzusehen.
    »Coatlicue!« schrie er aus vollem Hals.
    Hoch über ihm stand sie, zweimal so groß wie ein Mensch, und ihre beiden Schlangenköpfe beugten sich zu ihm herab. In ihren Augen glühte rotes Höllenfeuer, und gespaltene Zungen schnellten vor und zurück. Als sie ihn umkreiste, fiel das Mondlicht voll auf ihre Halskette aus Menschenhänden und -herzen, beleuchtete die sich windenden Schlangen, die ihr um die Hüften hingen. Als Coatlicues zwei Mäuler zischten, bewegte sich der lebende Rock, und alle Schlangen zischten mit.
    Die Göttin beugte sich über ihn, und Chimal sah, daß sie genauso aussah, wie auf den Steinreliefs im Tempel, fürchterlich und unmenschlich, mit Scheren statt Händen, die sich hungrig öffneten, während sie auf ihn zukamen. Sie schlossen sich, erfaßten knirschend die Knochen in seinen Handgelenken, durchschnitten seinen rechten Arm, dann den linken. Zwei weitere Hände für die Halskette.
    »Ich habe das Gesetz gebrochen, mein Dorf bei Nacht verlassen und den Fluß überschritten. Ich sterbe.« Chimals Stimme war nur ein Flüstern, das sich verstärkte, während er im Schatten der über ihm wartenden Göttin den Sterbegesang anstimmte.
    Als er geendet hatte, beugte sich Coatlicue tief herab und riß ihm das Herz aus der Brust.
     
2.
     
    Neben ihr, in einer kleinen Tonschale im Schatten des Hauses, lag ein Zweig der Quiauhxochitl, der Regenblume, nach der sie benannt war. Während Quiauh über dem steinernen Metatl kniete und Mais mahlte, murmelte sie ein Gebet zu der Göttin der Blume und bat sie, die dunklen Götter fernzuhalten. Heute jährte sich zum sechzehnten Mal der Tag, an dem sie Chimals Leiche am diesseitigen Flußufer gefunden hatte, von der rächenden Coatlicue zerrissen. Warum war sie selbst verschont worden? Coatlicue mußte wissen, daß sie das Tabu ebenso verletzt hatte wie Chimal, und doch blieb sie am Leben. Seit der Zeit lebte sie jedes Jahr an diesem Tag in Angst.
    Dieses Jahr war das schlimmste
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