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Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Titel: Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
Autoren: Kenneth Oppel
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zusammensackte und dann auf dem Bauch liegend langsam, mit den Füßen zuerst, über die Kante rutschte.
    Meine Hände scharrten suchend herum, doch es gab nichts, wo ich mich festhalten konnte, und es war mir unmöglich zu verhindern, dass ich immer weiter auf den Abgrund zurutschte. Zuerst mit der Hüfte, dann der Brust und dem Kopf – doch das Dach hatte einen leicht erhöhten Rand aus Stein, und dort fanden meine hektischen Hände endlich einen Halt.
    Ich baumelte. Mit den Füßen trat ich gegen das Fenster, doch seine in Blei gefassten Scheiben waren sehr fest. Aber auch wenn ich die Scheiben hätte zerbrechen können, hätte ich mich aus dieser Position heraus wohl kaum hineinschwingen können.
    Mir war klar, dass ich mich nicht mehr lange halten konnte. Mit aller Kraft versuchte ich, mich hochzuziehen. Mein Kopf kam wieder auf die Höhe des Daches, und ich schaffte es, mein Kinn über den steinernen Rand zu stemmen. Ich spannte die angewinkelten Arme an, die vor Erschöpfung zitterten, konnte aber nicht mehr ausrichten.
    Direkt über mir erhob sich großes Geschrei, und flüchtig sah ich eine Menge Menschen, die mit gespenstisch vom Schein der Fackeln beleuchteten Gesichtern über die Balustrade spähten. Ich sah Elizabeth und Henry, meine Mutter und meinen Vater – aber es war Konrad, an dem mein Blick hängen blieb.
    Er hatte seinen Umhang um einen der Pfosten der Balustrade gebunden, sodass er wie ein Tau herunterhing. Ich hörte die schrillen Protestschreie meiner Mutter und die wütenden Rufe meines Vaters, als sich Konrad über die Balustrade schwang. Er packte den Umhang und kletterte und glitt daran hinab bis zu seinem Ende.
    Auch wenn die Kraft aus meinen Armen und Händen wich, schaute ich völlig gebannt zu. Konrads Beine baumelten noch knapp zwei Meter über dem kleinen Dach und sein Landeplatz war nicht gerade üppig bemessen.
    Er blickte nach unten und ließ los. Stehend kam er auf dem Dach auf, fand – während die Zuschauer aufstöhnten – leicht taumelnd sein Gleichgewicht und ließ sich dann sicher und standfest in die Hocke nieder.
    »Konrad«, keuchte ich. Ich wusste, dass mir nur noch Sekunden blieben, bevor meine Muskeln versagten und sich meine Finger lockerten.
    Er streckte die Hand aus.
    »Nein!«, ächzte ich. »Ich reiß dich mit hinunter!«
    »Willst du sterben?«, rief er und wollte meine Handgelenke packen.
    »Setz dich!«, wies ich ihn an. »Zurück an die Mauer. Und stemme die Füße gegen den Rand!«
    Er machte es so, wie ich gesagt hatte, dann packte er mit beiden Händen nach mir. Ich wusste nicht, wie das funktionieren sollte, denn er war genauso schwer wie ich und die Schwerkraft war gegen uns.
    Und doch – und doch –, gegenseitig hielten wir uns an den Handgelenken fest, seine Füße waren gegen den steinernen Rand gestemmt, und er zog mit aller Macht – und dann noch mehr – und zog mich hoch und über die Dachkante. Zitternd, gleichzeitig weinend und lachend, brach ich über meinem Bruder zusammen.
    »Du Dummkopf«, sagte er keuchend, als wir uns beide fest umarmten. »Du Riesendummkopf. Du wärst fast ums Leben gekommen.«

2. Kapitel
Die Dunkle Bibliothek
    »Es ist schrecklich«, sagte ich, »in der Blüte seiner Jahre verkrüppelt zu sein.«
    »Du hast dir nur den Knöchel verstaucht«, gab Konrad trocken zurück. »Elizabeth, warum in aller Welt schiebst du ihn ständig im Rollstuhl herum?«
    »Ach«, antwortete Elizabeth lachend, »ich find’s lustig. Im Moment jedenfalls.«
    »Dr. Lesage hat gesagt, dass der Knöchel eine Woche lang nicht belastet werden darf«, protestierte ich.
    Die Nachmittagssonne strömte durch die Fenster des nach Westen gelegenen Raums, einem der vielen großen und elegant möblierten Zimmer des Schlosses. Es war Sonntag, vier Tage nach meiner knappen Berührung mit dem Tod. Vater war nach Genf gefahren, um irgendwelche dringenden Geschäfte zu erledigen, und meine Mutter hatte ihn begleitet. Sie wollte eine kränkelnde Tante in der Stadt besuchen. Meine beiden jüngeren Brüder, Ernest, neun Jahre alt, und William, der gerade erst Laufen gelernt hatte, waren mit dem Kindermädchen Justine im Hof, um nur so zum Spaß einen Gemüsegarten anzulegen.
    »Im Ernst«, Konrad schüttelte den Kopf. »Das ist doch wie eine Gouvernante mit Kinderwagen.«
    Ich wandte mich an Elizabeth. »Ich glaube, unser Konrad möchte selbst in den Stuhl. Er fühlt sich ausgeschlossen.«
    Dann blickte ich wieder zu meinem Bruder und hoffte auf eine
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