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Der Stein - Hohler, F: Stein

Der Stein - Hohler, F: Stein

Titel: Der Stein - Hohler, F: Stein
Autoren: Franz Hohler
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DER PRÄSIDENT
    E s war morgens um sechs, als der Präsident seine Altstadtwohnung verließ und sich zu Fuß auf den Weg zum Regierungsgebäude machte.
    Der Personenschutz war informiert, aber wie üblich hatte sich der Präsident eine Begleitung verbeten. Er bewegte sich gern wie ein normaler Mensch unter normalen Menschen und genoss es, in einem Land zu leben, in dem das möglich war, er genoss es, einer zu sein, der frühmorgens zur Arbeit ging und freundlich zurückgrüßte, wenn ihn jemand freundlich grüßte.
    Der Weg zum Regierungsgebäude war kurz, er führte quer durch die Altstadt, welche um lange Straßen herum angelegt war. Die Straßen nannte man ihrer Breite zum Trotz Gassen, und sie waren durch verschiedenste Quergässchen miteinander verbunden, die zum Teil so eng waren, dass sich zwei Personen gerade noch kreuzen konnten, ohne sich zu berühren. Diese Gässchen mied der Präsident auf Anraten des Personenschutzes und
wählte die größeren Querstraßen, welche ebenfalls Gassennamen trugen.
    An der Ecke einer Quer- mit einer Längsgasse befand sich ein Café, das schon um sechs Uhr öffnete und in dem man sich bei mildem Wetter an eines der Tischchen unter einem Laubengang setzen konnte. Meistens versah Catherine, die Gerantin, den Frühdienst selbst, und wenn der Präsident, wie heute, dort Platz nahm, hatte er wenig später einen Café au lait mit einem Croissant vor sich.
    »Bonjour, monsieur le président«, sagte Catherine, die stets eine rotweiß karierte Schürze trug und ihre Haare in zwei Zöpfen um den Kopf geschlungen hatte. Der Präsident antwortete mit »Bonjour, madame Catherine«, und wenn er sich fünf Minuten später erhob, sechs Franken auf den Tisch legte und weiterging, rief sie ihm unter der Türe »Au revoir, bonne journée!« nach, und er rief »Merci, pareillement!« zurück, und nach diesem Morgenritual konnte der Tag beginnen.
    Heute blieb er etwas länger, denn kurz bevor er den Kaffee ausgetrunken hatte, hörte er vom Stuhl, auf den er seine Mappe gestellt hatte, ein Miauen und sah, dass eine junge Katze hinaufgehüpft war und ihn anblickte, erwartungsvoll, wie ihm schien. Der Präsident blickte sie auch an, hob dann die Augenbrauen und sagte: »Na, noch nicht gefrühstückt?«
    Als die kleine Katze wieder ihr dünnes Miauen hören ließ, nahm er eine große Brosame seines Croissants, nässte sie mit einem Rest geschäumter Milch aus seiner
Kaffeetasse und hielt sie der Katze hin. Diese musterte sie nur kurz, schnappte sie sich mit einer ebenso schnellen wie graziösen Bewegung und nahm dann wieder ihre erwartungsvolle Haltung ein.
    Der Präsident, amüsiert, fütterte ihr noch zwei, drei Stücklein, kraulte sie auch ein bisschen am Brustlatz, und als die Wirtin heraustrat, fragte er sie, ob das ihre Katze sei. Nein, sagte diese, sie habe sie gestern schon gesehen, wisse aber nicht, wo sie herkomme, hoffentlich störe sie ihn nicht.
    »Wir sind schon Freunde«, sagte der Präsident lächelnd, stand auf, nahm seine Mappe vom Stuhl und verabschiedete sich.
    Als er wenig später an einem Fußgängerstreifen anhielt, um nach links und rechts zu schauen, bemerkte er neben seinem rechten Fuß die junge Katze.
    »Ssst!«, zischte er ihr zu und schüttelte dazu drohend seine Mappe, »geh nach Hause!«
    Dann überquerte er die Straße, und hinter ihm her, zierlich und unbeirrbar, ging die kleine Katze.
    Der Präsident blieb auf der andern Straßenseite stehen, zusammen mit dem Kätzchen, dachte einen Augenblick nach, drehte sich dann um und ging wieder zurück, gefolgt vom Kätzchen. Drüben angekommen, beugte er sich nieder, packte die junge Katze am Nacken und warf sie in die Richtung, aus der er vorher gekommen war. Dann betrat er den Fußgängerstreifen so schnell, dass ein Lieferwagen scharf abbremsen musste, und strebte mit schnellem Schritt dem nahen Regierungsgebäude zu.

    Der Sicherheitsbeamte am Eingang grüßte ihn respektvoll, als er ihm die Pforte neben der Schleuse für die Parlamentarier öffnete, und fragte ihn: »Alles in Ordnung, Herr Präsident?«
    »Danke, Herr Schmid«, sagte der Präsident und wunderte sich erst im Weitergehen ein bisschen über die Frage, die ihm so noch nie gestellt worden war. Auch hatte er das Gefühl, im Blick des trockenen Schmid sei ein leichtes Erstaunen gelegen.
    Er stieg die große Treppe hoch und bog dann in den Korridor ab, der zu seinem Büro führte. Erst als er vor der Tür stand und seinen Schlüssel aus der Tasche zog, sah er
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