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Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman

Titel: Der Zauber der ersten Seite - Cossé, L: Zauber der ersten Seite - Au bon roman
Autoren: Laurence Cossé
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    Z umindest kann man sagen, dass Paul Néons Verschwinden im Kanton Antibes-Biot, wo er sich allem Anschein nach niedergelassen hatte, kein Aufsehen erregte, nicht einmal in Les Crêts, dem ärmlichen Dorf, in dem er das letzte Haus am Dorfrand bewohnte.
    Paul brach auf einem dicken Teppich aus verrottendem Laub zusammen, unterhalb des Waldwegs, auf dem er wohl schon eine ganze Zeit vor sich hin getorkelt war – zehn Tage danach fand der junge Jules Reveriaz seinen Schal am Wegrand, etwa fünfzehn Meter von der Stelle entfernt, an der Paul gestürzt war. Zwei oder drei trockene Äste brachen unter seinem Gewicht. Nachdem wieder Stille eingekehrt war, gab es einen Augenblick lang ein Vibrieren. Dem schwarzen Laub entwich dabei ein leises Seufzen, wie es nur die Wasserspinnen hören, wenn sich eine Katze, nachdem sie mehrere Minuten lang reglos und mit vorgestrecktem Kopf in die Dunkelheit gestarrt hat, ins Moos legt. Es war zehn Uhr abends. Eine von Dunst überlagerte Mondsichel gab gerade so viel Licht, dass man den Weg in der Nacht erkennen konnte.
    Vermutlich ließ Paul seine Flasche erst los, als er völlig das Bewusstsein verlor und sich seine Finger infolge der Muskelentspannung lösten. Suzon war es, die sechs Tage danach diese rechteckige leere Flasche fand, einen Meter von dem Abdruck entfernt, den der große, schwere Körper des Fünfzigjährigen hinterlassen hatte. Nach genau dieser Sorte Indiz hatte Suzon gesucht, und sie hätte viel darum gegeben, es nicht zu finden. Doch ob Paul in dieser von einem schmächtigen Mond erhellten Nacht während des Sturzes die Besinnung verlor oder ob er auf dem Boden noch einen Augenblick lang die Augen offen hatte, ob er einen Schrei ausstieß, ein Wort sagte oder ob er nicht einmal mehr die Kraft hatte, auch nur die Lippen zu bewegen, das wusste niemand, jedenfalls niemand in Les Crêts. Später sollte sich erweisen, dass mindestens zwei Personen bei dieser Sache als Zeugen zugegen gewesen waren, und »Zeugen« ist noch milde ausgedrückt.
    Am Vormittag darauf – soweit zu der Zeit, zu der Paul gewöhnlich aufstand, noch von Vormittag die Rede sein konnte – wollte Paul nacheinander die beiden Fassungen von Minna von Wangel lesen. Doch wer wusste davon? Van rekonstruierte diese wenigen Tage erst im Nachhinein. Paul hatte Minna von Wangel bereits gelesen, daran konnte er sich gut erinnern. Stendhal gehörte zu den Autoren, deren Werk er zur Gänze zu kennen glaubte. Und dennoch hatte er erst in diesem Herbst, als er noch einmal Band II einer alten Ausgabe der Romane und Novellen aufschlug, Rosa und Grün entdeckt, und dieser Romananfang war, obwohl sieben Jahre nach Minna geschrieben, wie eine – ebenfalls unvollendet gebliebene – Einleitung. Deshalb hatte er sich als Programm für diesen Vormittag des 8. November vorgenommen, zunächst Rosa und Grün zu lesen und danach ein weiteres Mal Minna von Wangel .
    Wenn man es Programm nennen will. Paul Néon hatte ebenso wenig ein Programm wie eine Tageseinteilung und hielt sich ebenso wenig an Lebens- wie an Ernährungsregeln. Und damit mir niemand in den Mund legt, was ich nicht geschrieben habe: Hier steht nicht: »der Glückliche«.
    Vielleicht klingelte das Telefon im Erdgeschoss seiner berghüttenartigen Behausung am Nachmittag jenes Tages besonders lange. Vielleicht klingelte es ein oder zwei Stunden darauf noch einmal und nicht minder verzweifelt. Doch wer hätte es hören sollen, beim ersten oder beim zweiten Mal?
    Manchmal sah man eine junge Frau bis zu seiner Hütte fahren, recht häufig ein und dieselbe, es war immer ein billiger Kleinwagen, häufig der kirschrote Twingo, hin und wieder ein schwarzer Fiat und seltener ein graublauer Nissan.
    Häufig, der Twingo? Wir wollen nicht übertreiben, der Wirt vom Alpette hätte gesagt: »Ein oder zwei Mal im Vierteljahr.« »Jeden Monat«, hätte ihn Madame Huon korrigiert, die Wirtin vom Étoile des Alpes, »und immer samstags.« Das hätte Madame Antonioz bestätigt: »Der rote Wagen samstags, die anderen in der Woche. Klare Verhältnisse.«
    »Wenn Sie mich fragen, Schülerinnen von ihm.« – Das war Madame Huons Vermutung. »Studentinnen«, präzisierte Madame Antonioz, die im Lycée von Albertville als Dokumentarin gearbeitet hatte, bevor sie sich in Les Crêts zur Ruhe setzte, sie glaubte zu wissen, dass Monsieur Néon Dozent an der Uni von Chambéry war. »Wochentags jedenfalls«, fügte sie hinzu.
    Denn die junge Samstagsdame kam sicher samstags, weil sie
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