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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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ihm blieb, um durch die Gänge zu hinken, durch die Jumar ihn führte. Und auf ihrem Weg erinnerte sich Jumar, wie er in eben-diesen Gängen das Laufen gelernt hatte, denn damals war er es gewesen, der sich an Tapa festhielt – an seinen Hosenbeinen, so klein war Jumar gewesen und der alte Tapa noch nicht alt.
    Tapa war es, den er später immer wieder gefragt hatte:
    Warum, Bruder Tapa, bin ich nicht wie die anderen Leute? Warum kann man sie sehen und mich nicht? Nicht einmal ich selbst kann mich sehen, obwohl ich jeden Teil meines Körpers spüren kann!
    Frage deinen Vater, hörte er Tapa in seiner Erinnerung.
    Aber er antwortet mir nicht, hatte Jumar gesagt und an Tapas Hosenbein gezogen. Antworte du mir!
    Und wieder Tapas Stimme: Ich habe keine Antwort.
    Nun, da er ihn durch den Palast schleppte und das Gewicht des geschundenen Körpers schwer auf seiner Schulter lasten fühlte, war es, als schließe sich ein Kreis. Noch begriff Jumar nicht, was der Tod bedeutete und dass er nahe war, dass es der Tod war, der sich auf seine Schulter stützte. Noch waren da zu viele wild durcheinanderwirbelnde Gefühle in seinem Kopf unterwegs, und der Geruch der Gefahr und des Abenteuers dirigierte sie in einem verrückten Tanz.
    Und ein Schlüssel lag schwer in seiner Tasche.
    Jumar fand seinen Vater im Schatten einer Rosenhecke. Er stand gedankenverloren, den Wasserschlauch in einer Hand, und das Wasser lief unbeachtet in die dunkle, duftende Erde.
    »Vater«, sagte Jumar.
    »Sieh nur«, sagte der König. »Sieh nur, wie schön die Feuerlilien in diesem Jahr geworden sind. Sie sind schöner als je zuvor. Ich bin mir beinahe sicher, dass ihre glühenden Farben den Weg in die Träume deiner Mutter finden.«
    »Vater!«, wiederholte Jumar. »Jemand will dich sprechen!«
    »Später«, sagte der König ungehalten, »siehst du nicht, dass der Garten mich braucht? Meine Audienzen sind zwischen drei und fünf Uhr nachmittags, und jeder weiß das.«
    Da fasste Jumar den König mit der freien Hand am Arm. »Vater!« rief er ein letztes Mal. »Vergiss doch jetzt mal die Feuerlili-en!«
    Der König starrte auf seinen Arm, auf dem die unsichtbaren Finger seines Sohnes einen Fleck aus rotem Blut hinterlassen hatten – das Blut eines anderen, allzu sichtbares rotes Blut. Und endlich, endlich drehte er sich um.
    »Du trägst die zweite Schicht Kleider nicht«, sagte er tadelnd. Aber in seiner Stimme lag noch immer mehr Abwesenheit als Tadel.
    Der alte Tapa machte Anstalten, in eine Verbeugung zu fallen, doch Jumar zog ihn wieder hoch. »Mir scheint, dies ist keine Zeit für Gespräche über Kleiderschichten«, sagte er, »oder für Verbeugungen.«
    »Ich – ich bringe Nachrichten von draußen«, stammelte der alte Tapa. »Ich dachte, jemand muss es dem König sagen. Die Leute draußen, mein König, Ihr wisst, dass sie hungern, und die Kommunisten, die alles ändern wollen, sind stark geworden –ich habe gesehen, wie stark sie bereits sind – sie sind viele, und ihre Worte sind groß –«
    Jumar sah, wie der König sich umdrehte und mit dem Finger den Stiel einer Feuerlilie entlangfuhr. »Sie sind schön, meine Lilien«, sagte er, »schön, nicht wahr?«
    Der alte Tapa verstummte perplex. »Die ... Lilien?«, murmelte er verständnislos.
    Da wandte sich der König wieder ihm zu, und er lächelte.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Niemand braucht sich Sorgen zu machen. Wir haben Frieden in diesem Land. Kein Grund zur Beunruhigung. Kein Grund, mich in meinem Garten zu stören. Die Führer meines Heeres melden mir, dass sie die Situation im Griff haben.«
    »Welche Situation?«, fragte Jumar.
    »Ich pflege mich nicht nach derlei Kleinigkeiten zu erkundigen«, erwiderte der König und verschmälerte seine Augen ein winziges bisschen, als er in die Richtung sah, in der er seinen Sohn vermutete. Jumar machte den Mund auf und machte ihn wieder zu.
    »Geht jetzt«, sagte der König. »Geht, und lasst mich allein.«
    Aber wer ging, war er. Er nahm den Gartenschlauch auf und ging den Weg entlang, der zwischen den Rosenhecken ins Innere des Gartens führte, wo irgendwo verborgen in ihrem Pavillon seit vierzehn Jahren eine Frau schlief, die niemand erwecken konnte.
    Und Jumar wusste, dass es seine Schuld war, dass sie schlief.
    Denn nichts an ihren Eingeweiden oder in ihrem Kopf war krank. Sie hatten sie geröntgt, computertomografiert, kernspin-tomografiert, ihre Hirnströme gemessen und ihre Nervenleitge-schwindigkeit ausgerechnet. Da war
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