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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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nichts an ihr, das nicht stimmte.
    Und das Wort Koma, das die Ärzte gern gebrauchten, war falsch.
    Aber die Ärzte wussten nicht, dass die Königin ein unsichtbares Kind zur Welt gebracht hatte. Diese eine Tatsache hatte man ihnen verschwiegen. Sonst hätten sie es ihr wohl kaum übel genommen, dass sie es angesichts einer solch entsetzlichen, unbegreiflichen Tatsache vorgezogen hatte, die Augen vor der Welt zu verschließen und in einen niemals endenden Schlaf zu fallen.
    »Es ist meine Schuld«, flüsterte Jumar. »Es ist alles meine Schuld, nicht wahr? Und deswegen wird er mir niemals zuhören. Wenn sie nicht schlafen würde, hätte er niemals diesen Garten um sie herum gepflanzt, diesen Garten unter der lächerlichen Glaskuppel, und er wüsste, was draußen geschieht, und niemand würde hungern.«
    Er spürte, dass der alte Tapa nicht mehr lange stehen konnte, und so setzte er sich auf den Boden, mitten auf den sorgfältig gefegten Weg aus blank polierten Marmorplatten, und hielt den Alten in seinen Armen.
    »Wenn ich immer getan hätte, was mein Vater befohlen hat... wenn ich immer die Handschuhe getragen hätte und niemals heimlich die zweite Schicht Kleider abgestreift ... Tapa ... glaubst du, ich wäre dann irgendwann sichtbar geworden? Meinst du, dann wäre die Königin aufgewacht?«
    Tapa lächelte mit seinem zerschundenen Gesicht zu ihm auf, obwohl er nicht sehen konnte, wohin er lächelte. Aber daran war er seit vierzehn Jahren gewöhnt.
    »Du sprichst wieder wie der kleine Junge«, sagte er, »der du vor langer Zeit warst. Natürlich nicht, mein kleiner Junge. Natürlich nicht. Ich weiß nicht, ob es einen Weg gibt, sichtbar zu werden. Und ich weiß nicht, ob es einen gibt, der die Schuld trägt.« Er wisperte jetzt, und noch immer wurde seine Stimme leiser. »Es ist nicht an uns, diese Dinge zu entscheiden.«
    »Erzähle mir«, bat Jumar und beugte sich ganz nah zu ihm herunter. »Erzähle mir, was draußen geschieht. Erzähle mir von denen, die dich so zugerichtet haben!«
    »Sie wollen den König stürzen«, flüsterte Tapa. »Sie sind viele, und sie gehen in die Dörfer und holen sich die Jungen, Starken, damit sie mit ihnen kämpfen. Sie werden immer mehr, und sie halten große Reden. Wenn die Leute Hunger haben, öffnen sich ihre Ohren weit für solche Reden. Die Aufständischen verstecken sich in den Bergen, und es ist selten, dass sie in ein Dorf kommen wie das meiner Tochter.« Er stotterte, und Jumar sah, wie sich der Schmerz in seine Gesichtszüge verbiss und seine Stimme zerreißen wollte. »Noch ist es selten«, fuhr er mühsam fort. »In den Bergen, im Dschungel, dort sind sie sicher, und dort haben sie ihre Lager, in denen sie die Revolution vorbereiten. Die aus den Bergen ins Tal herabkommen sagen, man könnte dort ihre Schüsse hören, wenn sie üben.«
    »Weshalb leiden die Leute Hunger?«, fragte Jumar. Auch das Wort »Hunger" kam ihm vor wie ein Abenteuer. Er hatte noch nie Hunger gelitten. Er wollte wissen, wie es sich anfühlte, ob es wehtat und ob es die Gedanken veränderte.
    »Hat dir nie jemand von den Drachen erzählt?«, fragte der alte Tapa.
    Jumar schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass es keine Drachen gibt«, antwortete er. »Sie gehören zu den alten Märchen, und alles, was es gibt, sind Echsen. Eidechsen, Feuerechsen, Kragenechsen ...«
    »Jaha, so steht es in den klugen Büchern, die von weit her kommen«, sagte Tapa. »Aber es gibt sie, da draußen. In den Bergen. Noch trauen sie sich nicht in die Stadt, aber sie werden täglich dreister ... sie ...«
    »Ja?« Jumar beugte sich noch tiefer über den Alten. Er war kaum noch zu verstehen.
    »Sie fressen die Farben. Die Reisfelder sind ohne Farbe, Hoheit, schwarz-weiß wie ein Zeitungsbild, und farbloser Reis macht... die Leute ...« Seine Stimme wurde leiser und geriet ins Stocken. »... nicht satt. Das ist es aber ... nicht... allein. Sie...«
    Jumar hielt sein Ohr ganz nahe an Tapas Mund.
    »Was noch?«, flüsterte er. »Was tun sie noch?«
    Doch der alte Tapa schüttelte den Kopf, ganz langsam. Das war das Letzte, was er tat.
    Dann fiel sein Kopf zur Seite, wo ein unsichtbarer Arm ihn hielt, und sein Blick blieb für immer an der Glaskuppel hängen, die den Garten hoch oben vor Regen und Sturm abschirmte.
    Und vor den Gerüchten über das Rauschen von großen, unwirklichen Flügeln in ungesehenen Momenten.
    »Tapa!«, flüsterte Jumar. »Tapa!«
    Er schüttelte den alten Mann, erst sanft, dann stärker.
    Aber er
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