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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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Deutschland, Oktober
    Der Tag, an dem Arne verschwand, war golden.
    Es war einer jener späten Oktobertage, an denen die Farben noch einmal aufflackern, ehe sie endgültig verblassen – einer jener Tage, an denen man glaubt, eine letzte Erinnerung an den Sommer zu spüren, obwohl Pullover und Cordhosen längst die Straßen bevölkern.
    Christopher würde sich später immer an das Gelb der Kastanien im Schulhof erinnern und an das Blau des Himmels an jenem Tag – immer, wenn er an Arne dachte.
    Jeder in der Schule hatte Arne gemocht.
    Alle Mädchen ab der siebten Klasse waren in ihn verliebt gewesen, und mindestens zwei Drittel der Jungen hatten ihn bewundert. Christopher dagegen war jemand, dessen Existenz die meisten noch nicht einmal bemerkt hatten.
    Manchmal, wenn jemandem sein Nachname auffiel, erntete er einen überraschten Blick: »Hagedorn? Bist du verwandt mit Arne Hagedorn? Bist du etwa sein kleiner Bruder?«
    Und wenn Christopher nickte, schüttelten sie den Kopf, als wollten sie ihm bedeuten, dass er sich irrte. Sie sagten: »Dich haben wir uns ganz anders vorgestellt. Ihr seht euch aber auch gar nicht ähnlich.«
    Nein, das taten sie nicht.
    Arne war groß und breit und stark und hatte dieses weißblonde Haar und dieses Gesicht, das einfach niemand wieder vergaß.
    Christopher war klein und schmächtig und dunkel, und er hatte die Züge seiner Großmutter geerbt, die keiner von ihnen kennengelernt hatte und die vor einer Ewigkeit aus Nepal gekommen war, um einen großen, blonden Deutschen zu heiraten – einen wie Arne.
    Weshalb es natürlich niemanden überrascht hatte, als Arne beschloss, nach der Schule für ein Jahr nach Nepal zu gehen.
    »Auf der Suche nach seinen Wurzeln, so ein ernster Junge«, hatten sie gemurmelt und anerkennend genickt; ja, und arbeiten wollte er, in einem Waisenhaus. Das war Arne Hagedorn.
    Nachdem bekannt war, dass er fortging, hatten sich auf einen Schlag alle Mädchen in ihn verliebt, die noch nicht in ihn verliebt waren, und er hatte versprechen müssen, Dutzende von E-Mail-Adressen auf seine Reise mitzunehmen.
    So wie Christopher seinen Bruder kannte, würde er tatsächlich versuchen, allen zu schreiben, wenigstens ein einziges Mal. Arne tat solche Dinge. Er tat alles, was getan werden musste. Wenn jemand das Basketballturnier retten musste, war Arne zur Stelle. Wenn jemand die Schachmeisterschaft für die Schule gewinnen musste, gewann Arne sie. Selbst wenn jemand einen Streik gegen die Lehrer anzetteln musste, weil etwas Ungerechtes geschehen war, tat Arne es – und deshalb mochten alle Arne.
    Christopher mochte Arne auch.
    Arne war beinahe zwanzig. Er selbst war erst vierzehn. Er hätte sich niemals getraut, einem Mädchen eine E-Mail zu schreiben. Er traf beim Basketball keinen Korb, er hätte die Schachmeisterschaft vermasselt, und bei einem Streik gegen die Lehrer hätte er gekniffen.
    Er bewunderte Arne, wie alle ihn bewunderten.
    Wenn die Leute mit seinen Eltern sprachen, sagten sie: »Sie müssen sehr stolz sein auf ihren Sohn!«
    Und wenn Christophers Eltern fragten: »Auf welchen?«, dann antworteten sie: »Na, auf Arne natürlich! Haben Sie denn noch einen Sohn?«
    So waren die Dinge gelaufen.
    Bis Arne an jenem goldenen Oktobertag verschwand.
    Natürlich verschwand er nicht wirklich an jenem Tag. Er war schon vorher verschwunden, nur hatte es niemand gewusst.
    Aber an jenem Tag bekamen Christopher und seine Eltern die Nachricht.
    Das Waisenhaus, in dem Arne arbeitete, hatte ihm ein paar Tage freigegeben, und Arne war in den Himalaja gefahren, um zu wandern. Allein. Und jetzt, nach vier Wochen, hatten die Leute vom Heim endlich den Mut aufgebracht, eine Nachricht zu schicken, dass er nicht zurückgekehrt war. Drei Wochen lang hatten seine Eltern es auf das Internet geschoben, das E-Mail-Programm, Arnes abenteuerlichen Lebenswandel – »Er wollte nur für eine Woche weg«, sagte Christophers Vater ungefähr 27 Mal, »er wollte nur für eine Woche weg, und sie informieren uns nach vier Wochen, dass er nicht wieder aufgetaucht ist?«
    Jetzt hörte man auch in den Nachrichten, dass die Lage in Nepal kritisch war. Es standen wieder mehr Panzer auf dem Durbar Square vor dem Palast. Auf der Internetseite des Auswärtigen Amts rieten sie einem davon ab, nach Nepal zu fahren. Was man tun sollte, wenn man schon da war, erklärten sie einem nicht. Vermutlich nach Hause fliegen. Vermutlich in der Hauptstadt bleiben. Vermutlich nicht alleine in die Berge wandern gehen.
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