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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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geschüttelt und waren wieder in ihre Flugzeuge gestiegen und zurückgeflogen, und vermutlich hatten sie den merkwürdigen Fall der nepalesischen Königin und ihres tiefen Schlafs inzwischen längst vergessen über den Zahlen und Formeln, die sie in ihre Abrechnungen eintragen mussten. Die Königin schlief seit vierzehn Jahren.
    An jenem Morgen aber, an dem der blassgrüne Lizzard über die Gartenmauer huschte, öffnete sich eine Seitentür des Palastes, um jemanden einzulassen, und etwas begann zu geschehen. Später sagten sie, man hätte es längst ablesen können an den Zeichen im Himmel und den Tönen in der Luft und auch an den Linien in irgendjemandes Hand. Oder vielleicht am Wetterbericht. Aber das sagen sie später stets.
    Jumar Sander Pratap hörte das Klopfen zuerst. Der Gang, in dem sich die Tür befand, gehörte zu den Räumen der Bediensteten, und Jumar hatte dort nichts zu suchen, denn ein Thronfolger gehört nun einmal nicht in solcherlei Räumlichkeiten.
    Aber es hatte Jumar noch nie gekümmert, wohin er gehörte und wohin nicht. Und es war schwer, ihm zu verbieten, sich hier oder dort aufzuhalten. Man konnte nie genau sagen, wo Jumar sich befand. Denn in den vierzehn Jahren, die er im Palast lebte, hatte kein Mensch Jumar je gesehen. Nicht einmal er selbst. Darüber sagten sie nichts, draußen in der Stadt.
    Sie wussten nichts davon.
    Keiner, kein Einziger in ganz Kathmandu wusste, dass es einen Thronfolger gab.
    Denn es entbehrte nicht einer gewissen Peinlichkeit, einen Sohn zu haben, den man nicht sehen konnte. Man stelle sich vor: das Geschrei. Die Gerüchte. Und die ausländische Presse. Nein, es gehörte sich nicht, nicht gesehen zu werden, und so lebte Ju-mar nicht nur ungesehen, sondern auch unbekannt sein Leben zwischen den Mauern und Teppichen des Palastes – ein Leben, das mehr Schein war als Sein, oder vielleicht gerade Sein ohne Schein, und an dieser Stelle kam er immer durcheinander.
    Sie hatten versucht, ihn sichtbar zu machen. Die Kleider, die seine Haut berührten, benahmen sich so empörend und unangemessen wie die Haut selbst und verschwanden vor den Augen der Bediensteten, sobald er sie überstreifte. Jede zweite Schicht Kleider aber, die mit der unangemessenen Haut keinen Kontakt hatte, blieb sichtbar, und so lief Jumar auf Anordnung seines Vaters als seidene Hülle seiner selbst durch die Palastgänge. Seit er als Fünfjähriger eine ganze Schüssel Reispudding entwendet hatte, musste er Handschuhe tragen, damit die leblosen Gegenstände, die er berührte, nicht ebenfalls ihre Sichtbarkeit aufgaben.
    Aber was heißt Anordnung? Was heißt Befehl?
    Wer kann einem Unsichtbaren befehlen? Womöglich streifte da jemand die zweite Schicht Kleidung bisweilen ab, um ungesehen durch den Palast zu streunen?
    Nur die Außentüren, die Türen zur Stadt, blieben dem unsichtbaren Thronfolger verschlossen. Seit vierzehn Jahren gab es nur noch ein Minimum an Bediensteten im Palast.
    Und dieses Minimum war dazu verdammt, seine Schlüssel zu den Außentüren um den Hals zu tragen. Und beim Öffnen und Schließen der Türen peinlich genau darauf zu achten, dass niemand mit ihnen hinausschlüpfte, hinein ins Gewirr der Stadt.
    Man stelle sich vor: mit einer zweiten Schicht Kleidung – der Himmel bewahre! Die Schlagzeilen in den Köpfen der Leute!
    Gesichtsloser gesichtet.
    Unheimliches heimlich aus Palast entflohen.
    Wer ist er, der mit dem blicklosen Blick? Den körperlosen Schritten? Der mundlosen Stimme?
    Seit vierzehn Jahren war der Thronfolger Nepals ein Gefangener noch nicht entstandener Gerüchte.
    Und wer den Schlüssel nach draußen trug – wer den Gesichtslosen gesichtet hatte, den Mundlosen hatte sprechen hören –, der trug auch ein Schloss vor dem Mund. Allerdings wiederum ein unsichtbares.
    Aber kehren wir zurück in jenen Gang neben der Küche, in die Räume der Bediensteten, zurück zu dem Geräusch: Jumar blieb stehen und lauschte. Er wunderte sich und legte den Kopf schief – nicht, dass das optisch etwas an seiner Erscheinung geändert hätte – und lauschte weiter. Das Geräusch glich dem Kratzen eines Hundes. Es hatte etwas Verzweifeltes.
    Er hatte gehört, dass es Unruhe gab, da draußen, dass sie wuchs – obgleich er nicht wusste, welcher Natur diese Unruhe war. Man hatte ihm gesagt, dass es gefährlich sein konnte, sich dieser Tage in der Nähe von Türen aufzuhalten. Jumar hatte noch nie in seinem Leben etwas Gefährliches getan. Die Welt, deren Teil er war, war voll
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