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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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erinnerte sich nicht, wie man Leute wiederbelebt, obgleich er es in einer fernen Theoriestunde des Schwimmlehrers gelernt haben musste, und in diesem Moment begriff er, dass es bisweilen sinnlos war, Dinge in Theoriestunden zu lernen.
    An diesem Morgen lernte Jumar Sander Pratap, Kronprinz des Königreichs mit den höchsten Bergen der Welt, seine erste Lektion in der Praxis: Er lernte, den Tod zu begreifen.
    Aber den Tod kann man nicht begreifen, und so schrie Jumar lange und laut ohne Sinn. Die Ohren des Königs waren verschlossen für den Schmerz seines Sohnes, so wie sein Herz verschlossen war für alles, was sein Sohn tat und dachte. Doch die blassgrünen Lizzards im Palastgarten erschraken und huschten alle gleichzeitig in ihre Mauerritzen.
    Sie trauten sich erst Stunden später wieder heraus.
    Doch da lag der Palastgarten verlassen, und auch der Palast lag verlassen, obgleich niemand es zunächst bemerkte: verlassen von einem Unsichtbaren. Nur eine offene Seitentür zeugte von seinem Fortgehen.
    Die Stadt empfing Jumar mit offenen Armen, doch falls sie seine unsichtbaren Schritte spürte, so scherte sie sich weder um das uralt-adelige Blut, das in seinen Adern floss, noch um seine Un-erfahrenheit. Sie schleuderte ihm ihren Gestank, ihren Staub, ihre Hitze und ihre Farben ohne Rücksicht ins Gesicht.
    Jumar spürte ihre Ohrfeigen und begrüßte sie.
    »Ich bin frei«, flüsterte er in den Wind, der Unrat und Papierfetzen durch die Straßen fegte. »Ich bin frei. Ich, der Thronfolger Nepals, ich, Jumar, bin kein Gefangener mehr. Ich bin sogar noch viel freier als jedes andere Geschöpf auf der Welt. Ich kann tun und lassen, was ich möchte, und verdammt will ich sein, wenn ich je wieder wünsche, sichtbar zu werden!«
    Er streifte die Handschuhe ab und genoss es, die Luft an seinen Fingern zu spüren.
    Die Tauben flogen erstaunt vor seinen Füßen auf, berührt von etwas, das sie nicht sehen konnten. Dann die Tempel, unübersichtlich über den Durbar Square verteilt, jenen großen Platz, an dem der Palast lag. Die streunenden, narbenbedeckten Hunde, die im Schatten der Tempelstufen schliefen. Die Bettler. Die Betenden. Die Menschen, die Menschen, die Menschen. Er hatte sie oft gesehen, von oben, aus den Fenstern des Palastes oder von seinem Dach aus, doch wie anders es sich anfühlte, mitten unter ihnen zu sein! Sie drängelten und schubsten, schrien und lachten, beteten und feilschten – und wann immer einer von ihnen mit Jumar zusammenstieß, freute er sich über den verwirrten Ausdruck auf ihren Gesichtern. Er erklomm die Stufen eines der Tempel und setzte sich ganz oben vor die uralte, dunkelhölzerne Konstruktion aus zerfallender Schnitzerei. Von dort aus konnte er dem Palast in seine Fensteraugen sehen. Er sah auch die drei Panzer, die davor standen, und die Soldaten seines Vaters, die in verborgenen Nischen auf den Vorsprüngen im ersten Stock kauerten, ihre Gewehre seit Wochen ins Leere gerichtet, und ihm wurde kalt.
    Schließlich räusperte er sich und hielt eine kleine Rede.
    So, wie es nur jemand tun kann, der vierzehn Jahre zählt und dessen Herz voll ist von Trauer und Wut und Rache und Abenteuerlust. Und leer, was alle übrigen Erfahrungen betrifft.
    »So«, sagte er leise, und das Blut sang in seinen Adern in einem wundervoll neuen, beunruhigenden Rhythmus, »so, und nun wird alles anders. Da sitzt du in deinem Garten, mein Vater, und gießt deine Blumen und hast keine Ahnung von nichts, tatenlos sitzt du da wie ein alter Mann. Und der bist du. Du hast dich selbst alt gemacht. Aber ich, Jumar Sander Pratap, ich werde nicht tatenlos bleiben. Hah! Ich werde hinaufgehen in die Berge und den Anführer der Aufständischen finden, und ich werde ihn töten, so wie seine Leute den alten Tapa getötet haben. Ich bin unsichtbar, und keiner weiß von mir, und es wird ein Leichtes sein, mich bei ihnen einzuschleichen. Ich habe einen wasserdichten Rucksack aus den Staaten und darin eine norwegische Qualitäts-Taschenlampe und eine Decke aus feinstem Kaschmirgewebe. Indische Streichhölzer habe ich eingepackt und eine belgische Limonadenflasche voll Wasser und englisches Scotch Tape und eine Tüte einheimisches Fruchtgummi. Außerdem eine Kassette voll Geld. Ich habe an alles gedacht. Ich werde auch die Drachen finden und dafür sorgen, dass die Menschen keinen Hunger mehr leiden müssen. Damit du es nur weißt, mein Vater. Ich werde sie finden und besiegen, egal wie. Und dann wirst du einsehen müssen, dass
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