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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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ich mehr bin als ein dummes Kind, das im Palast seine Schulstunden absitzt und dem man nicht zuzuhören braucht. Dann wirst du aufhören, meine Existenz zu verleugnen. Du wirst zu den Menschen sagen: Seht nur, was für einen mutigen Sohn ich habe, und dann kannst du dich in deinen Garten setzen und ein Buch lesen, von mir aus, vielleicht eines über die Pflege von Rhododendron" – hier musste er ein wenig lachen bei seiner Rede – »denn dann werde ich es sein, der das Land regiert. Und du wirst mir den Schlüssel geben, den Schlüssel zu einem gewissen Zimmer, denn wenn ich zurückkehre nach Kathmandu, dann werde ich erwachsen sein.«
    Zu diesem Zeitpunkt wusste Jumar Sander Pratap nicht, wie recht er hatte.
    Die Tauben nahmen seine Rede gleichgültig hin und pickten weiter am Fuße der Tempelpagode nach den bunt eingefärbten Reiskörnern, die von der einen oder anderen Opfergabe übrig geblieben waren. Die Hunde gähnten und kratzten sich die Flöhe tiefer ins Fell. Und die Menschen schubsten sich weiter gegenseitig über den Durbar Square.
    Nur ein alter Bettler hörte Jumars Rede.
    »Was für klingende Worte«, sagte er, und Jumar fuhr herum, denn er hatte nicht gemerkt, dass der Alte neben ihm Platz genommen hatte. Er hielt einen Stock zwischen seinen krummen, zerschundenen Knien und schien zu alt und zu gebrechlich, um auf Tempelpagoden herumzuturnen.
    »Lass mich das Gesicht sehen, das zu diesen Worten gehört«, verlangte er und streckte seine Hand aus. Jumar wollte zurückweichen, doch die knochigen, braunen Finger hatten ihr Ziel bereits gefunden und wanderten nun aufmerksam über die junge, glatte Haut.
    Verwundert suchte Jumar in den Augen des Bettlers nach einer Erklärung. Erst als er sah, dass diese Augen weiß waren und keine Iris besaßen, begriff er: Der Alte war blind. Für ihn war Jumar nicht weniger zu sehen als irgendjemand anderer.
    »Ein Gesicht ohne Spuren«, sagte der Alte und lächelte. »So hat der König ohne Zukunft einen Sohn mit einem Gesicht ohne Spuren. Ich mag es, wenn die Ironie in den Dingen so leicht zu begreifen ist.«
    Jumar sprang auf und schüttelte verwirrt den Kopf.
    »Ich begreife überhaupt nichts!«, sagte er. »Darf ich Euch eine dumme Frage stellen?«
    »Es gibt nur dumme Fragen«, antwortete der Bettler.
    »Könnt Ihr mir sagen, wie ich in die Berge komme?«
    Der Bettler lachte. »In welche Berge, mein Junge? In welche Berge?«
    »Dorthin, wo sich die Aufständischen verstecken«, sagte Jumar.
    Der Bettler legte den mageren Finger an die Lippen. »Nicht alles in dieser Stadt muss man laut sagen«, erklärte er. »Und wenn einer so genau wüsste, wo du da hinmusst, dann wäre manchem geholfen. Der, der es wüsste, aber, lebte gefährlich. Ich für meinen Teil würde in einen Bus nach Norden steigen. Im Norden, sagen sie, ist schon besetztes Gebiet. Dorthin traut sich kein Polizist mehr und kein Soldat. Nur die Drachen trauen sich dorthin.«
    Da durchlief es Jumar von innen heiß wie nach einer zu schnell zerkauten Chilischote.
    »Gibt es sie denn?«, wisperte er.
    »Wen?«, fragte der blinde Bettler. »Die Polizisten? Oder die Soldaten?«
    »Die Drachen«, flüsterte Jumar.
    Der Bettler schwieg.
    Und schließlich schluckte Jumar die Reste der nicht verschluckten Chilischote hinunter und fragte: »Wo finde ich einen Bus nach Norden?«
    »Wie wäre es mit dem Busbahnhof?« fragte der Bettler zurück.
    Jumar machte den Mund auf, um zu fragen, wo der Busbahnhof war. Wozu, dachte er, hatte er eigentlich vier Jahre lang bei einem Privatlehrer Geografieunterricht gehabt, wenn er nicht einmal wusste, wo in seiner eigenen Stadt der Busbahnhof war? Die Busbahnhöfe, die Jumar kannte, befanden sich in den Filmkulissen von Hollywood.
    Als er vom Tempel kletterte und jemand anderen nach dem Busbahnhof fragte, erhielt er keine Antwort, sondern nur einen erschrockenen Blick. Schließlich quetschte er sich mit zwei Frauen und einer Menge Gepäck in eine Rikscha und schickte ein Stoßgebet an alle Götter Nepals und an Buddha und sicherheitshalber auch an den Christengott, dass sie zum Busbahnhof fuhr.
    Wenigestens eine der drei Parteien erhörte ihn.
    Und so saß der Thronfolger Nepals am Nachmittag jenes Tages (an welchem der blassgrüne Lizzard über die Mauer des Palastgartens huschte) mit angezogenen Knien im hinteren Teil eines überfüllten Busses zwischen einem Schaf, drei großen Holzkisten und einer Frau, die ihr Kind unter seinen neugierigen Blicken abwechselnd mit der
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