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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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In den Bergen saßen die Maos. Die Kommunisten. Arne hatte Witze über sie gemacht und geschrieben, sie würden den Touristen ein zweites Eintrittsgeld für das Annapurnagebiet abnehmen und Flugblätter austeilen, auf denen sie in schlechtem Englisch erklärten, sie wären die eigentliche Regierung des Landes. Ansonsten wären sie höflich und zurückhaltend.
    Seit zwei Wochen las Christopher alles über die Maoisten, was er finden konnte. Es war nicht viel, aber es barg eine beunruhigende Faszination. Christopher war klein und schwach und vielleicht nicht mutig, aber er war auch nicht dumm. In jenen Tagen des Wartens auf eine E-Mail von Arne fragte er sich zum ersten Mal in seinem Leben, ob Arne womöglich dumm war. Nicht im eigentlichen Sinn des Wortes. In einem anderen, weit-greifenderen Sinn, der beinhaltete, dass man alleine ins Anna-purnagebiet wandern ging, wenn alle einem davon abrieten.
    Und dann kam also jene Nachricht. Es war ein Donnerstagnachmittag.
    »Man kann sich natürlich nicht sicher sein«, sagte Christophers Vater und drehte seine schmale Brille in den Händen. »Womöglich hat er sich einen Fuß verstaucht und sitzt in einem Dorf mitten im Nichts und bringt den Kindern der Einheimischen Französisch bei, während sie seinen Knöchel mit Urwaldblättern bandagieren. Das sähe ihm ähnlich.«
    »Du bist übergeschnappt«, sagte Christophers Mutter. »Vollkommen übergeschnappt. Urwaldblätterbandagen! Sitzt da, in deinem Sessel, und redest über Urwaldblätterbandagen! Wir müssen doch etwas tun, irgendetwas! Ruf jemanden an, die Botschaft oder was –«
    »Das habe ich schon getan«, sagte Christophers Vater.
    »Dann ruf sie eben noch mal an!«, schrie seine Mutter und warf das Saftglas um, das sie eine Sekunde vorher auf den Tisch gestellt hatte. Christopher sah, wie ihre Hände zitterten, als sie die Scherben aufsammelte. Dann goss sie sich statt Saft ein halbes Glas voll Gin ein, und Christophers Vater stand aus seinem Sessel auf und nahm es ihr nach dem ersten Schluck weg, um es in den Ausguss zu kippen.
    »Das nützt auch nichts«, sagte er.
    »Sei doch nicht so verdammt ruhig!«, schrie seine Mutter. »Es kümmert dich wohl gar nicht, dass unser Sohn von irgendwelchen bewaffneten Kommunisten entführt worden ist! Es lässt dich vollkommen kalt! Das ist es, es lässt dich kalt, es –«
    Und dann brach sie auf der Sofakante zusammen und löste sich in einen Wasserfall aus Tränen auf. Christopher stand nur da und sah, wie seine Eltern sich umarmten und versuchten, sich gegenseitig zu trösten, und fühlte sich so steif wie eine Statue. Er sagte sich, dass er noch etwas anderes fühlen musste – etwas außer der Statue, zu der er wurde. Schreck. Entsetzen. Trauer. Wut. Selbst ein heimliches Schuldgefühl, weil er keinen Schreck, kein Entsetzen und keine Trauer empfand. Aber da war nichts. Alle Gefühle in Christopher waren versteinert. Als hätte Arne sie mitgenommen – mit nach nirgendwohin.
    Drei Tage lang geschah nichts. Dann hieß es, eine Splittergruppe der Maoisten hätte bekannt gegeben, dass sie drei Europäer in ihrer Gewalt hatten, aber es gab nirgends Bilder oder Namen, und es gab keine Verhandlungsbasis, denn die Maos konnten sich nicht über ihre Forderungen einigen.
    Christophers Mutter schluckte Beruhigungstabletten wie Bonbons, und sein Vater telefonierte täglich stundenlang mit Leuten in Ämtern und Botschaften, die ihm nicht helfen konnten. In der Schule spürte Christopher jetzt die Blicke der anderen, die sich nicht zu fragen getrauten, doch er wich ihnen aus. Zu Hause wusch er das Geschirr ab, das sich im Haus inzwischen überall stapelte, und hängte die Wäsche auf, die er in einer muffig riechenden Waschmaschine fand. Irgendwann besorgte er sich in der Bibliothek einen Bildband über Nepal und zog sich damit in sein Zimmer zurück. Unter der Kruste der Statue, zu der er geworden war, begann es langsam zu brodeln. Vielleicht würde sie von innen schmelzen. Aber wenn sie explodierte, gab es niemanden mehr, der das Geschirr abwusch und die Wäsche aufhängte.
    Wie wenig, dachte er, nützte es Arne nun, dass alle ihn mochten, denn offenbar war niemand bereit, wirklich etwas zu tun, um ihm zu helfen! Alle drehten durch, alle drehten sich um sich selbst, während er irgendwo alleine im Himalaja festsaß.
    Christopher setzte sich auf sein Bett und ließ seine Finger durch die Seiten wandern: Berge, Schluchten, schneebedeckte Gipfel – ein trockenes Flusstal, Maultiere auf
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