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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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von weichen Kissen und Musikstunden und Englischtexten und Sinuskurven auf Millimeterpapier, voll von Schwimmstil-Übungen im königlichen Pool (denn einzig bei dieser Sportart konnte man ganz ohne doppelte Kleidungsschicht seine Kooperation kontrollieren, da sich das Wasser bewegte), voll von Computerkursen und fremdsprachigen Briefpartnern und Büchern, aber nichts darin barg Gefahr.
    Als er an jenem Tag (an dem der blassgrüne Lizzard ... aber das wissen wir schon) das verzweifelte Kratzen an der Tür im Flur hörte, durchlief es ihn wie ein Hauch, gleichzeitig kalt und heiß, kurz: wundervoll. Und obwohl er wusste, dass er besser kehrtgemacht hätte, blieb er stehen und wartete.
    Die Tür öffnete sich unerwartet plötzlich.
    Der, der draußen gewesen war, hatte es endlich geschafft, sie aufzuschließen – und fiel Jumar in die Arme.
    Jumar taumelte zurück, und genau in diesem Moment änderte sich seine Welt für immer. Er stürzte zusammen mit dem anderen Menschen zu Boden, und ein Geruch nach Schweiß und Dreck und Blut hüllte ihn ein, Dinge, die er noch nie gerochen hatte und deren Intensität ihm den Atem nahm. Dennoch begrüßte er sie – er begrüßte sie, wie man ein unbekanntes Land begrüßt, und als er sah, dass es sein alter Diener Tapa war, der halb auf ihm lag, und als seine Finger in klebriges, warmes Blut griffen, da mischte sich sein Entsetzen mit der Gier nach Neuem, nach dem Dunklen, nach dem Gegensatz von all dem, was er kannte. Später schämte er sich dafür, doch er konnte dieses Gefühl nicht leugnen.
    »Tapa!«, keuchte Jumar und kämpfte sich hoch. Er schloss eilig die Tür und fiel neben dem alten Mann auf die Knie. »Was – wie –?«
    Die Kleider des Alten hingen in Fetzen und waren an so vielen Stellen zerrissen und dunkel verfärbt, dass Jumar sich ernstlich fragte, ob all dies wirklich Blut sein konnte, das sich zuvor in Tapas Körper befunden hatte. Er schloss, dass nicht mehr viel darin war, und versuchte, den alten Mann zu stützen.
    »Eure Hoheit«, flüsterte Tapa, »ich muss – ich muss Euren Vater sprechen.«
    Jumar drehte das Gesicht des Alten zu sich, sah die aufgesprungenen Lippen und die verquollenen Augen, das trockene Blut, das seine Nasenlöcher verkrustete, und den Dreck, der sein schütteres Haar verklebte. Übelkeit stieg in ihm auf.
    »Wer hat das getan?«, wisperte er.
    »Sie«, antwortete der Alte heiser und zeigte in eine unspezifische Richtung. »Ich war bei meiner Tochter, in ihrem Dorf –«
    »Ich weiß, Tapa, ich weiß.« Jumar versuchte sich verzweifelt zu erinnern, ob er irgendwann einmal etwas darüber gelernt hatte, was man mit Verletzten tut, die einem in die Arme fallen.
    »Sie waren dort, in dem Dorf. Jemand hat ihnen gesagt, dass ich im Palast arbeite – die Leute hungern, sagen sie, sie hungern, und im Palast gibt es zu viel Brot, zu viel – sie werden kommen, sie werden alles ändern, haben sie gesagt, es dauert jetzt nicht mehr lang. Sie werden Schluss machen mit solchen wie mir, die das Brot des Königs essen. Der König!«
    Der Alte krallte sich an Jumars Hemd fest, zog sich daran hoch und kam wankend auf die Beine. »Ich muss den König sprechen. Man muss ihm sagen, wie es aussieht, in jenen Dörfern. Man muss –«
    Er brach ab, rang nach Luft und griff nach der Wand, um nicht zu fallen. Seine Hand hinterließ einen Abdruck aus Blut und Dreck auf der reinen weißen Fläche.
    Später sagten sie, der Abdruck müsste noch immer irgendwo nördlich der großen Küche zu finden sein, und man könnte ihn seltsamerweise nur nachts sehen, auch, wenn der Mond nicht schien. Es war eine schöne Geschichte für die Touristen, die man durch den Palast führte.
    Tatsache ist, dass ein gewisser, bis dahin wohlbehüteter Schlüssel aus jener Hand zu Boden fiel. Er fiel mit einem leisen Klirren, kaum hörbar und doch so bedeutend.
    »Er ist im Garten«, sagte Jumar, und zum ersten Mal bemerkte er eine gewisse Bitterkeit in seiner eigenen Stimme. »Im Garten, wo er stets ist um diese Zeit. Er gießt seine Pflanzen. Du weißt, dass er niemand anderem erlaubt, seine Pflanzen zu gießen.«
    Der alte Tapa lächelte mit seinen aufgesprungenen Lippen. »Sie sagen, er hätte sie alle eigenhändig gepflanzt. Ist es wahr?«
    »Ich fürchte, ja«, erwiderte Jumar. »Es ist das Einzige, das ich ihn je mit solcher Hingabe habe tun sehen. Er pflanzt sie für meine Mutter. Was – was wirst du ihm sagen?«
    Aber Tapa schwieg, denn er brauchte den wenigen Atem, der
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