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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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einer schmalen Hängebrücke. Großblättrige Bäume voller Schlingpflanzen, Wasserfälle, buddhistische Klöster mit leuchtenden Wandmalereien und bunte Gebetsflaggen über den braunen Hütten. Es gab nichts, was er tun konnte, und so träumte er sich die Seiten entlang, über die Berge und durch die Täler, an den blau mäandern-den Flüssen vorbei und die blendend hellen Gletscher hinauf, um wenigstens auf eine Weise bei Arne zu sein. Als es Abend geworden war, aber niemand ans Essen dachte, als draußen die Perlenkette der Straßenlaternen in der Dunkelheit aufflackerte und der Oktober einen leisen Oktoberregen auf die Straßen niederschickte, waren Christophers Augen an einem Bild hängen geblieben: Es zeigte die grünen Wellen des tropischen Urwalds, dort, wo die Berge noch niedrig waren und die feuchtwarme Luft unbewegt zwischen den Bäumen stand. Im Vordergrund sah man einen Pfad, der in jene grüne Welt hineinführte, sich wand und schlängelte und endlich auf eine geheimnisvolle Weise im Unterholz verschwand.
    Christopher sah das Bild lange an; so lange, bis seine Augen tränten und es davor verschwamm und alles, was er noch sah, die Farbe Grün war.
    Grün.
    GRÜN.
    Grünes Zwielicht an einem Nachmittag im tropischen Urwald.
    Etwas raschelte links von ihm im Dickicht. Er fuhr herum. Und in diesem Moment merkte er, dass seine Füße auf einem federnden Teppich aus Laub standen. Vor ihm schlängelte sich der Weg ins Unterholz. Er rieb sich die tränenden Augen. Aber es gab keinen Zweifel: Er war hier, im Wald. Eine Unzahl unbekannter Vögel lärmte, unsichtbar in den hohen Ästen, und die Zikaden zirpten so laut, dass man meinen konnte, man stünde direkt neben einem Elektrizitätswerk.
    Das war unmöglich. Das konnte nicht sein.
    Das war – aber nein. Vernünftig bleiben, lieber Christopher. Durchdrehen war etwas, das andere Leute taten. Es gab eine absolut plausible Erklärung.
    Er träumte.
    Es raschelte noch einmal zu seiner Linken, und Christopher sah, dass dort eine Spur in den Urwald führte: eine Spur aus umgeknickten Grasbüscheln und Ästen, die vom Weg wegführte. Er zögerte. Er war nicht Arne. Arne wäre der Spur gefolgt, einfach so, ohne Angst zu verspüren. Christopher hatte Angst. Auch wenn es vermutlich nur geträumte Angst war. Er verstand nichts von alledem, was geschah, und seine Hände waren feucht vor Nervosität. Dennoch ging er der Spur nach, Schritt für Schritt, ganz vorsichtig, und das Rascheln kam näher.
    Und dann sagte eine ihm unbekannte Stimme vor ihm müde und verzweifelt:
    »Lauf nicht weg. Bitte lauf nicht weg. Hilf mir. Bitte!«
    Christopher schüttelte den Kopf, machte noch einen Schritt nach vorne, um zu sehen, ob er sich in der Entfernung verschätzt hatte ... ob der Besitzer dieser Stimme irgendwo hinter einem Busch verborgen war ...
    Dabei stolperte er über jemanden.
    Jemanden, der ungefähr so groß war wie er und der schrie, als Christopher auf ihn fiel.
    Er rollte sich zur Seite und sah sich keuchend um.
    Doch da war niemand.

Nepal
    Der Garten lag still im Morgenlicht, so still wie ein geheimer Gedanke.
    Die Tempelbäume fächerten ihre weißen Blütenräder der Sonne entgegen, und die ersten Feuerlilien öffneten ihre Kelche eben dem kommenden Tag.
    Ein Lizzard huschte als blassgrüner Streifen über die Mauer.
    Aus Tausenden und Abertausenden von Blüten strömte ein verschwenderischer Duft, der sich unter der Glaskuppel fing wie eine Wolke, und draußen in der Stadt sagten sie, bisweilen würde es aus jener Wolke regnen, und der Regen fiele wie Tränen auf den Garten und überschwemmte die Wege, überschwemmte die Beete und Mäuerchen, und eines Tages würde er den Palast überschwemmen – eine Sintflut aus Blütenduft. Aber das war nur eines der Dinge, die sie sagten. Keiner von ihnen hatte den Garten jemals gesehen. Sie kannten nur seine hohen, unüberwindlichen Mauern. Und wenn sie darüber sprachen, was dahinterlag, senkten sie ihre Stimme zu einem Wispern.
    Denn dort, im Garten, im Schutz der Mauern, im Schatten der Bäume, unter der gläsernen Kuppel, inmitten des Duftes, dort schlief die Königin.
    Sie schlief nicht wie im Märchen. Sie schlief in der Realität. Und es war besser, man sagte es nicht so laut. Etwas war geschehen, und sie war in einen tiefen Schlaf gefallen, aus dem niemand sie erwecken konnte. Nicht einmal die Ärzte, die von weit her gekommen waren, in großen Flugzeugen übers Meer – nicht einmal die. Sie alle hatten nur den Kopf
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