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Reich und tot

Reich und tot

Titel: Reich und tot
Autoren: dtv
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August
    1
    Die Sommerhitze flirrte über den Bürgersteigen und den glühend heißen Autodächern. Die Leute schienen sich bei diesen Temperaturen wie in Zeitlupe zu bewegen. Chief Inspector Jacobson hockte in seinem Büro oben im fünften Stock des Präsidiums und fühlte sich zu müde zum Arbeiten. Die Hitze blockierte seine Gedanken. Kurz blitzte das Innere der Banque Populaire in Avignon vor ihm auf, die angenehme Kühle, der Kassierer im weißen Hemd, mit gelockertem Kragen, effizient, sachlich. Bis das Präsidium in Crowby mit einer Klimaanlage ausgestattet war, würde die Erderwärmung wahrscheinlich längst wieder der Vergangenheit angehören.
    Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dem Schweiß war nicht beizukommen. Seine Laune sank noch ein Stück mehr, als er die unberührten Papierstapel auf dem Schreibtisch vor sich sah. Sein Urlaub war kaum eine Woche her und kam ihm doch schon vor wie einer jener plastischen Träume, die sofort nach dem Aufwachen verblassen. Er sah auf die Uhr. Halb zwei. Bis zu Chief Superintendent Chivers’ »operativer Besprechung« war es noch eine halbe Stunde. Zeit, um sich mit den Überstundenabrechnungen zu beschäftigen, die längst bearbeitet sein sollten – oder für einen schnellen Abstecher in den »Brewer’s Rest«. Die Entscheidungfiel ihm nicht schwer: Jacobson drehte sich mit seinem Stuhl und reckte sich. Dann nahm er seinen Pager vom Schreibtisch, schaltete ihn ein und steckte ihn in die Hemdtasche.
    Leise schloss er die Bürotür hinter sich und steuerte zielstrebig die Hintertreppe an, den bevorzugten Ausgang für Gelegenheiten wie diese. Wenn man die Haupttreppe und vor allem den Aufzug mied, minimierte man die Chance, auf jemanden zu treffen, den man nicht treffen wollte. Blieb einzig der Sprint unten am Empfangsbereich vorbei. Der Weg über die Hintertreppe war den Wissenden auch als Denby-Pfad bekannt, im Gedenken an Detective Sergeant Denby, einen ehemaligen, vor einiger Zeit verstorbenen Kollegen. Denbys Fähigkeit, sich von Vorgesetzten und Untergebenen ungesehen aus dem Präsidium zu schleichen (und wieder hinein), war fast so legendär wie seine Vorliebe für überlange Mittagspausen im »Brewer’s Rest«.
    Jacobson hatte das Gefühl, dass ihm Denbys Geist gütig zulächelte, als er sein Glas von der Theke hinaus in den Biergarten des Pubs trug. Das kleine helle Lagerbier konnte zwar kaum mit dem Glas Roten im Schatten des Palais des Papes konkurrieren, war aber allen Überstundenabrechnungen um Längen überlegen. Jacobson setzte sich an einen Tisch, der vom verblichenen Grün eines Perrier-Sonnenschirms vor der Sonne geschützt wurde, zog das Jackett aus und fühlte sich fast schon wieder wie ein Mensch. Er hatte Glück, einen Tisch ganz für sich allein zu finden. Die Hitzewelle hatte die Einnahmen des Pubs kurzfristig auf das Niveau jener schicken Café-Bars und nachgemachten irischen Kneipen katapultiert, die dem »Brewer’s Rest« seit einiger Zeit schon das Wasser abgruben. Nicht, dass es Jacobson besonders leidgetanhätte, hätte der Pub seine Pforten schließen müssen. Wie etliche seiner Kollegen kam er vor allem her, weil der »Brewer’s Rest«, wie Denby vor ewigen Zeiten bereits festgestellt hatte, nahe genug beim Präsidium lag, um ein schnelles Bier zu trinken, aber doch nicht
so
nahe, dass man von dort dessen Tür im Blick gehabt hätte.
    Die Frau, von der er den Blick zu wenden versuchte, hatte dunkelrote, präraffaelitische Ringellocken. Ihre linke Hand zupfte am Saum ihres kurzen Sommerkleides, während sie sich mit der rechten ein Handy ans Ohr drückte. Jacobson hoffte für sie, dass die Strahlungsrisiken, von denen er in der Zeitung gelesen hatte, nichts als Schauermärchen und Sommerlochfüller waren. Er schätzte die Frau auf etwa dreißig, vielleicht jünger, bevor es ihm gelang wegzusehen. Er hob das Glas und trank in langen, durstigen Zügen. In letzter Zeit musste er übermäßig viel Energie aufbringen, um seine Augen von jungen Frauen zu lassen und seine Jünglingstriebe mit der mittelalten Hülle seines Körpers in Einklang zu bringen. Er nahm noch einen Schluck und wünschte, sein kleines Bier wäre ein großes, oder besser noch: das erste von zwei großen. Aber nein, selbst in seiner Nachurlaubsstimmung kam es absolut nicht infrage, mit etwas anderem als einem klaren Kopf zur Besprechung des Superintendent zu erscheinen.
    Er überprüfte ein weiteres Mal, ob sein Pager eingeschaltet war, und riskierte
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