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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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Boden des Busses ausrutschte. Er fuhr hoch und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Der Bus war beinahe leer. Eben hatte er am Rand eines Flusstals gehalten, und auf der anderen Seite dieses Tals sah Jumar einen Pfad, der sich hinauf in die Berge schlängelte. Er sah nur seinen Anfang. Einen vielversprechenden Anfang zwischen dem üppigen Grün der Reisfelder und dem Gelb von blühenden Bäumen.
    Er schaffte es gerade noch, aus dem Bus zu springen, ehe dieser wieder anfuhr.
    Der Pfad, sagte Jumar sich, war der Beginn seiner Reise. Und er legte den Kopf in den Nacken und sah empor zu den Bergen, die sich in ihrem grünen Kleid von dichtem Wald vor ihm erhoben. Ein seltsames Gefühl riss an seinem Magen.
    »Hunger«, sagte Jumar und lächelte. Er war es gewohnt, mit sich selbst zu sprechen, denn obwohl sein Leben bis dahin ein behütetes und einfaches gewesen war, war es auch ein einsames gewesen. Niemand spricht gerne lange mit Leuten, die er nicht sehen kann. Und niemand spricht gerne lange mit einem Thronfolger. Wie häufig die Leute sich mit Thronfolgern unterhalten, die man nicht sehen kann, lässt sich leicht ausrechnen, vor allem, wenn man einen so präzisen Mathematikunterricht genossen hatte wie Jumar.
    Jumar hatte in seinem Mathematikunterricht nicht gelernt, wie man sich ernährt, wenn man nicht alle fünf Stunden eine warme Mahlzeit an einem Tisch mit Blick zum Garten serviert bekommt. An der Straße standen ein paar hölzerne Bretterbuden, in denen Teigpasteten verkauft wurden. Interessiert betrachtete Jumar die Fliegen, die sich auf den Pasteten sammelten, und sah zu, wie ein kleines Kind auf dem Boden einer Bretterbude neben der Schale mit dem Teig den Inhalt seiner Windel verschmierte. Er schluckte. Er schluckte ein zweites Mal. Dann scheuchte er die Fliegen fort, nahm eine Teigpastete und sah, wie sie verschwand, als er sie berührte. Die Frau, die die Pasteten gedankenverloren betrachtet hatte, stieß einen kleinen spitzen Schrei aus.
    Jumar war derlei Reaktionen nicht gewohnt, da man im Palast wusste, dass alle toten Gegenstände, die er mit der bloßen Haut berührte, ebenfalls unsichtbar wurden. Er ließ die Pastete fallen, und sie wurde wieder sichtbar. Die Frau schrie noch einmal, und er zuckte zusammen.
    »Jetzt ist es aber genug«, sagte er dann laut und nahm die Pastete mit Todesverachtung zum zweiten Mal auf. Er biss hinein, und zu seiner Verwunderung schmeckte sie gar nicht schlecht. Eine der blauen Plastikwasserflaschen nahm er ebenfalls mit, denn immerhin, sagte sich Jumar, war er der Thronfolger, und er hatte ein gewisses erbliches Anrecht auf jene blaue Plastikflasche. Dann fiel ihm ein, dass er eine Kassette voll Geld aus dem Palast mitgenommen hatte, und er legte einige Münzen auf die hölzerne Theke.
    Die Frau sah die Flasche vor ihren Augen verschwinden, sah, wie die Münzen sich materialisierten, und schüttelte den Kopf noch lange, nachdem der unsichtbare Thronfolger nicht mehr da war. Aber natürlich machte es für sie keinen Unterschied, ob er da war oder nicht.
    Ungesehen, unbemerkt, unbegleitet machte sich Jumar auf den Weg ins Flusstal hinunter, wanderte über eine metallene Hängebrücke, die unter seinen Füßen schwankte, durchquerte die Reisterrassen und befand sich gleich darauf auf dem Weg hinauf in den Wald.
    Das grüne Dickicht aus übergroßen Blättern und Lianen schloss sich um ihn wie ein Meer, und er sagte wieder: »Interessant.«
    Eine halbe Stunde später betrat er ein Gebüsch, um einer selbst für Thronfolger notwendigen Tätigkeit nachzugehen. Auf seinem Rückweg zu dem Pfad, dem er gefolgt war, biss etwas in seinen Fuß.
    Er schnappte vor Erstaunen nach Luft und sah an seinem Bein hinunter. Da war etwas, das sich darum geschlossen hatte wie die Kiefer eines kleinen, starken Tieres. Jumar zog an dem Fuß, kam aber nicht weiter. Es tat weh. Er kniete nieder und bog die grünen Stauden zur Seite, die seinen Fuß und das kleine Tier verbargen. Es war nichts zu sehen. Jumar tastete eine Weile.
    »Interessant«, sagte er zum dritten Mal an diesem Tage. Das Tier war kein Tier, sondern eine Konstruktion aus rostigem Metall, fest im Boden verankert und mit einem Federmechanismus versehen. Er versuchte, die eisernen Kiefer mit den Händen auseinanderzubiegen, doch sie saßen zu fest. Und die winzigen Zähne daran bohrten sich tiefer und tiefer in die Haut seines Knöchels.
    Im Geiste ging er die vielen nützlichen und internationalen Dinge durch, die er in seinem
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