Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
Als er die aufeinandergreifenden Zähne vorsichtig berührte, fühlte er Blut daran kleben – unsichtbares Blut. Und jetzt sah er auch den Schuh, der daneben lag. Doch kaum hatte er ihn entdeckt, da löste sich der Schuh auch schon in nichts auf. Alles, was von ihm blieb, war das leise Geräusch einer sich schließenden Schnalle.
    Sein unsichtbares Gegenüber hatte den Schuh wieder angezogen.
    »Bitte«, sagte Christopher, »erkläre mir – alles, was du berührst, wird unsichtbar?«
    »Nur die unbelebten Dinge«, antwortete Jumar. »Und Wasser, zum Beispiel, bleibt, wie es ist. Erde und Stein auch. Es ist eine Frage des Ausprobierens. Wenn ich barfuß ginge, würden vermutlich die toten Blätter auf dem Boden verschwinden. Aber der Weg würde bleiben, wo er ist. Meistens trage ich übrigens Handschuhe. Damit die Sachen, die ich hochhebe, nicht verschwinden. Zum Schuheanziehen ist es allerdings unpraktisch.«
    »Interessant«, sagte Christopher.
    »Tu mir einen Gefallen«, meinte Jumar, »und sag dieses Wort eine Weile nicht mehr.«
    Eine halbe Stunde später saßen sie gemeinsam auf einem Felsen am Wegesrand und blickten in ein Tal hinab, durch das sich ein Fluss in leuchtend blauem Gewand schlängelte.
    Eigentlich saß Christopher alleine dort. Aber neben ihm gab es eine Stimme, die ihm eine unglaubliche Geschichte erzählte.
    Eine Geschichte von einer schlafenden Frau und einem Garten unter einer riesigen Glaskuppel, von Drachen, die in den Bergen lebten und Farben fraßen, von einem sterbenden Diener und von einem König, der sein Land vergessen hatte. Es wäre ein Märchen gewesen, wären nicht die Flugzeuge darin vorgekommen und die Ärzte und die Computerkurse des Thronfolgers und die Panzer.
    »Und nun erzähle du mir etwas über dich«, sagte die Stimme ohne Gesicht. »Ich weiß noch immer nichts als deinen Namen. Wieso bist du hergekommen?«
    Das liegt daran, dass du die ganze Zeit über redest, dachte Christopher.
    »Ich heiße Christopher«, antwortete er etwas steif.
    »Und wieso bist du hergekommen, Kri... Kissen... Ki-scho...?«, fragte Jumar.
    »Christopher«, verbesserte Christopher, um Zeit für eine Antwort zu gewinnen.
    »Krischnofer. Wieso bist du hier?«
    Ich weiß es nicht, wollte Christopher antworten. Doch dann sagte er etwas anderes.
    Er sagte: »Ich glaube, ich bin gekommen, um meinen Bruder zu finden. Arne. Er ist schon neunzehn, und er war eine Weile in Nepal, um in einem Kinderheim zu arbeiten. Er tut solche Dinge. Alle haben ihn gern.«
    »Und wo ist er jetzt?«
    Christopher seufzte. »Das«, sagte er, »weiß keiner so genau. Sie glauben, die Maoisten haben ihn entführt. Aber sicher ist sich keiner. Er wollte im Annapurnagebiet wandern gehen, ganz alleine ... er ist nicht zurückgekehrt.«
    Jumar schwieg eine Weile. Er schwieg so lange, dass Christopher begann, an seiner Existenz zu zweifeln. Vielleicht saß er doch alleine auf dem Felsen über dem unverschämt blau glitzernden Fluss?
    Er streckte die Hand aus – und spürte, wie eine andere Hand sie drückte.
    »Ich bin unterwegs«, sagte Jumar, »um das Lager der Aufständischen zu finden. Und du bist unterwegs, um deinen Bruder zu finden. Und vielleicht ist beides ein und dasselbe. Warum gehen wir nicht zusammen?«
    Christopher lächelte. »Hat jemand behauptet, dass wir nicht zusammen gehen? Ich meine, natürlich ist dies ein Traum, und ich werde bald daraus aufwachen, aber solange ich ihn träume, kann ich ihn ebenso gut mit dir zusammen träumen.«
    Das war ein sehr schöner Satz, fand Christopher, und es war eigentlich schade, dass keines der Mädchen aus seiner Schule ihn gehört hatte – jener Mädchen, die ihre Tage stets damit verbracht hatten, einen von Arnes schönen Sätzen abzubekommen.
    Der Weg wurde steiler, und grobe, steinerne Stufen schlichen sich hinein. Zuerst ging Jumar voran, doch Christopher stieß andauernd gegen ihn. Es war nicht besonders praktisch, unsichtbar zu sein.
    So führte Christopher, und hinter sich hörte er Jumars schweren Atem und manchmal das Knacken eines Astes unter seinen Sandalen. Wenn der Weg eben war, sprachen sie miteinander. Solange Christopher sich nicht nach Jumar umdrehte, konnte er sich vorstellen, es wäre ein ganz normaler Mensch, mit dem er unterwegs war, und das war in jedem Fall ein besseres Gefühl, als dauernd mit einer Stimme zu sprechen, die mitten aus der Luft kam.
    »Wo befindet sich dieses Lager der Aufständischen?«, fragte Christopher. »Weißt du den Weg
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher