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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis
Autoren: Antonia Michaelis
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Rucksack mitgenommen hatte: belgische Limonade. Einheimisches Fruchtgummi. Eine norwegische Taschenlampe. Was er jetzt gebraucht hätte, wäre ein Schweizer Messer gewesen. Aber er hatte kein Schweizer Messer.
    »Hee!« rief er. »Hee! Ist da jemand, der mich hört?«
    Es war niemand da.
    Nach einer Weile wurden Schritte auf dem Weg laut, und er rief wieder, lauter, verzweifelter. Kurz darauf teilten sich die Zweige, und ein Mann mit einem Tragegestell voller Kisten auf dem Rücken starrte Jumar ins Gesicht.
    Doch er sah ihn nicht. Natürlich sah er ihn nicht. Niemand sah ihn. Und er sah nicht einmal die Falle, die durch den Kontakt mit Jumars Haut ihr optisches Dasein eingebüßt hatte.
    »Bitte«, sagte Jumar, »befreien Sie mich aus diesem Ding. Ich bin hineingetappt, ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte ... aber es ist nun mal passiert, und alleine schaffe ich es nicht.«
    Der Mann starrte ihn weiter an und schüttelte den Kopf. Dann taumelte er rückwärts, drehte sich um und rannte fort. Jumar hörte es in den Kisten auf seinem Rücken klappern, und er hörte, wie sich seine Schritte durchs Unterholz entfernten.
    Dann hörte er lange, lange Zeit nichts mehr.
    Und er sagte sehr lange Zeit nicht mehr »interessant".

I mmergrüner Nebelwald
    (Höhe: 1400 – ca. 2700 m)
    Flora:
    Großblättrige Alpenrose (Rhododendron grande), Rhododendron (Rhododendron arboreum), schmarotzende Baum-Orchideen (Agapetes serpens), Wacholder (Juniper communis), Eiche, verschiedene Baumfarne, Riesenbambus, Mais, Reis im Terrassenbau
    Fauna:
    Wilder Eber, Braunbär, Lemurenaffe, Moschusochse, Muli, gemeiner Blutegel, verschiedene Schmetterlingsgattungen

Christopher träumt
    »Wer, wer bist du?«, keuchte Christopher. »Wo bist du?«
    »Mein Name ist Jumar«, antwortete eine Stimme aus der Luft. »Und ich würde sagen, wo ich bin, hast du gerade gemerkt. Streck deine Hand aus.«
    Christopher zögerte. Was würde er fühlen, wenn er gehorchte? Schuppen, Fell, Klauen, Zähne? Dies war ein Albtraum, es konnte nicht wirklich sein.
    »Streck deine Hand aus«, wiederholte die Stimme etwas ungeduldig. Sie schien es gewohnt zu sein, dass man ihr gehorchte.
    Christopher fühlte, wie eine andere Hand seine nahm und führte, und gleich darauf spürten seine Finger Haut, Haar ... ein Gesicht.
    »Siehst du?«, fragte die Stimme – was eine unsinnige Frage war. Natürlich sah Christopher nichts. »Ich bin genauso da wie du. Man kann mich nur nicht sehen.«
    »Wie – wieso nicht?«
    Die Stimme seufzte. »Keiner weiß das. Ich wurde so geboren. Es hat seine Vor- und Nachteile. Im Übrigen bin ich der Sohn des Königs.«
    »Aha«, sagte Christopher verständnislos. »Bitte – welches Königs?«
    »Na – des Königs!« rief die Stimme. »Woher kommst du denn, dass du nicht weißt, wer der König ist!«
    »Aus meinem Zimmer«, antwortete Christopher wahrheitsgetreu. »Eben saß ich noch auf meinem Bett, und dann stand ich hier im Urwald.«
    »Du spinnst«, sagte die Stimme. »Aber Hauptsache, du hilfst mir. Ich bin in eine Falle geraten, so ein Eisending. Frage mich, was für Tiere sie damit fangen. Man müsste die Feder irgendwie aufbiegen ... hier, spürst du sie? Sie ist unsichtbar geworden, weil sie meine Haut berührt. Das ist eines der anderen ärgerlichen Dinge, die geschehen.«
    Die Hand führte Christophers Finger über raues, rostiges Eisen, und er fasste in etwas Feuchtes: Blut. Christopher zuckte zurück.
    »Ich kann kein Blut sehen«, sagte er.
    »Na fein«, sagte Jumar, »du siehst ja auch keins, es ist schließlich unsichtbar. Wenn du hier mal ziehen würdest, dann ziehe ich auf der anderen Seite ...«
    So zogen sie gemeinsam an den Eisenkiefern der Falle, mühten sich ab und rangen gemeinsam nach Atem, und schließlich spürte Christopher, wie sich die Eisenstücke bewegten, Millimeter für Millimeter. »Es – es funktioniert«, keuchte Jumar. »Weiter! Weiter!«
    Christopher kniff die Augen zu, biss die Zähne zusammen und zog mit aller Kraft. Er stellte sich vor, es wäre sein Bruder Arne, der in der Falle saß, stemmte seine Beine in den Boden und zog... »Warte«, hörte er Jumar flüstern, »so müsste es gehen. Noch ein wenig ...«
    Christopher fühlte, wie ihn die blutfeuchte Haut streifte.
    »Lass los«, sagte Jumar. »Aber vorsichtig. Sie wird wieder zuschnappen.«
    Gehorsam zog Christopher seine Finger zurück, und vor ihm klickte es metallisch. Gleich darauf lag eine eiserne Falle vor ihm auf dem Blätterboden.
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