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Wir sind nur Menschen

Wir sind nur Menschen

Titel: Wir sind nur Menschen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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I
    Es war ein warmer, leuchtender Juninachmittag des Jahres 1950, als der Tropenarzt und Toxikologe Dr. Peter Perthes die weiten Anlagen der ›Lindenburg‹ verließ, jener Stadt der Kranken inmitten der Stadt Köln. Einen Augenblick lang blieb er sinnend vor dem kleinen Gittertor stehen und schaute die stille Villenstraße hinunter.
    Die Bäume in den Gärten und Parks der Häuser wiegten ihre weitausladenden Kronen im kühlen Wind, der über die Stadt hinwehte und den Rhein hinab zu kommen schien. Es wird ein schöner Abend werden, dachte der Arzt und knöpfte sein helles Jackett auf. Er atmete tief auf und löste den Hemdknopf am Kragen. Hier war es endlich nicht mehr so heiß und drückend wie in seinem Labor, wo er den Tag vor seinen Reagenzgläsern verbracht hatte, wo er giftigen Vipern das Gift abzog und seine Wirkung an treuherzig blickenden, unschuldigen Kaninchen erprobte.
    Er war auf der Suche nach einem Tropengift, mit dem Eingeborenenstämme im Innern Brasiliens ihre Pfeile tränkten. So saß er stundenlang vor den großen Fenstern, mit Blick hinaus in den Krankenhausgarten, hinter dem Mikroskop und beobachtete mit Staunen, wie das Blut der infizierten Kaninchen sich auflöste, zu einer hellen, langsam farblos werdenden Flüssigkeit wurde, die den sofortigen, grauenhaften Erstickungstod der Tiere herbeiführte.
    Peter Perthes wischte sich über die Augen. Es war, als wolle er damit seine Gedanken an des Tages Arbeit verscheuchen und ihnen eine andere Richtung geben.
    Dieser Abendwind tat gut, das Rauschen der hohen Bäume war eine erholsame Melodie. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Rocktasche und zündete sich eine an. Dann blieb er von neuem unschlüssig stehen und überlegte, wohin er gehen sollte.
    Nach Hause? Nein, dazu war der Abend zu schön. Den ganzen Tag saß man in einer Zelle aus weißen Kacheln und atmete die Dünste von Säuren und Basen ein.
    In eine Wirtschaft, ein Café? Er verspürte keinen Appetit – er hatte nur Hunger nach Luft und Weite. Langsam ging er die Straße entlang, bog dann ab und spazierte mit langsamen Schritten dem Kölner Stadtwald zu. Dort war es schattig, kleine Weiher mit grünen Bänken an den Ufern luden zum Verweilen ein.
    Er ging die Fürst-Pückler-Straße hinab und wollte auf der Kreuzung der Dürener Straße in den breiten Waldweg einbiegen, als er von der gegenüberliegenden Seite einen etwa siebenjährigen Jungen auf einem Tretroller kommen sah.
    Der Kleine pfiff ein Liedchen vor sich hin, schien voller Freude und glücklich zu sein. Er lutschte aus der einen Hand ein Vanilleeis, während er mit der anderen die Lenkstange seines Rollers umklammert hielt. So bog er keck um die Ecke, fuhr auf die Fahrbahn und wollte gleichfalls in den Stadtwald einbiegen, als um die Kurve ein Personenauto knirschte und, eng an den rechten Bordstein gepreßt, in die Straße einbog.
    Einen Augenblick stand Peter Perthes wie versteinert. Dann riß er die Arme hoch, stürzte vorwärts und schrie: »Zurück! Zurück!« Aber der Junge hatte den Wagen schon gesehen, ließ sein Eis auf die Straße fallen und riß den Roller herum. Dabei glitt er mit dem rechten Fuß auf dem Eis aus, stürzte und rollte mit einem kleinen, beinahe piepsenden Schrei vor die Räder des Autos.
    Hell kreischten die Bremsen. Der Wagen schleuderte, krachte gegen den Bordstein und stand dann, unter seinen Rädern der Körper des Jungen. In einer Lache von geschmolzenem Eis lag der Roller.
    Mit wenigen Sprüngen war Dr. Perthes an der Unglücksstelle und riß den zitternden Chauffeur zurück, der den verunglückten Jungen unter dem Auto hervorziehen wollte. »Nicht doch!« rief der Arzt. »Wenn er einen Bruch hat, ziehen Sie ihm ja die Knochen auseinander!« Er bückte sich und griff als erstes nach dem Handgelenk des Jungen. »Der Puls ist schwach«, sagte er dann. »Haben Sie einen Wagenheber?«
    Der Chauffeur stand bebend daneben und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht war totenblaß. »Ich habe keine Schuld!« stammelte er. »Mein Herr, wenn Sie den Unfall gesehen haben … Wirklich, der Junge ist in meinen Wagen hineingerollt! So schnell kann man nicht bremsen. Nie! Und jetzt das!«
    Und plötzlich schrie er laut auf und rief: »Der Junge blutet ja!«
    Da die Villenstraße an diesem Nachmittag nicht sehr belebt war, standen nur wenige Zuschauer um die Unglücksstelle herum. Sie halfen bereitwillig mit, die Vorderräder des Wagens zu heben, während der Arzt auf den Knien
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