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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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werden ihn anstarren, Catrin wird ihn verachten und ihn weinend fragen, warum er ihr das alles nicht längst gesagt hat. Er wird ertrinken in ihrer Enttäuschung, ersticken an seiner Scham.
    Zwanzig Meter, fünfzehn, zehn ...
    »Sag was, schnell!«
    »Fahr los«, sagt sie.

26
    Und wenn ihr Leben an diesem Punkt zu Ende wäre, es wäre gut. Sich so lebendig zu fühlen, wie sie es in diesem Augenblick tut, an der Seite dieses verschlossenen, sprachlosen Jungen, der keinen Führerschein besitzt und ein Wohnmobil steuert, unsicher und voller Angst, auf einer Straße in Norwegen, irgendwohin, ans Ende eines Kontinents, ans Ende der Welt.
    Jan.
    Hagerer, schüchterner, ängstlicher Jan.
    Irgendwo wird diese Fahrt ein Ende haben, sie weiß nicht, wo, sie weiß nicht, was dann kommt. Sie will es nicht wissen, es ist ihr egal. Nur der Moment zählt, denkt sie, dieser eine Moment, keine Vergangenheit und keine Zukunft, sie fühlt sich aufgehoben und beschützt, sie kann nicht sagen, warum. Sie kann es nicht einmal denken, es umgibt sie einfach, es wärmt sie.
    Er ist ihr Mantel, unter dem sie nicht friert, so wie sie gefroren hat in den letzten Monaten, unausgesetzt, ein ständiges Zittern.
    Ein Unfall, der ihr die Augen genommen hat, den Spiegel ihrer Seele, und der ihr trotzdem die ganze Welt aufgeschlossen hat. Wenn wir schlafen, sind unsere Augen geschlossen, denkt sie, und wenn wir wach sind, auch.
    Sie stellt sich vor, sie wäre nicht blind. Martin säße neben ihr am Steuer, eine lange geplante Reise mit dem Wohnmobil seiner Eltern. Er würde ihr erzählen von seiner letzten Prüfung an der Hochschule und einem bevorstehenden Praktikum auf einem Küstenmotorschiff. Er würde sie langweilen mit Erörterungen über nautische Probleme, über Bruttoregistertonnen und Liegezeiten in Überseehäfen. Sie würden auf Rastplätzen stehen, er würde das Vordach aufbauen, sie würden an einem Campingtisch essen, auf Campingstühlen sitzend, und mit Blick auf einen Fjord über ihre Zukunft reden. Irgendwann würde er aufstehen, hineingehen ins Wohnmobil, wieder herauskommen, eine kleine Schachtel in der Hand mit einem Ring darin, und ihr einen Heiratsantrag machen. Sie würde Ja sagen und Nein denken, sie würde sich von ihm küssen lassen, später würde sie mit ihm schlafen im Doppelbett des Wohnmobils in der Bettwäsche seiner Eltern, anschließend würde er sich von ihr herunterwälzen und einschlafen, schweißnass und eins mit sich, und sie würde wach liegen, stundenlang, in der Stille einer einsamen norwegischen Nacht und sich fragen, was um Himmels willen in ihrem Leben schiefgelaufen ist ...
    Das Wohnzimmer ihrer Eltern. Die Aufgeräumtheit einer engen Welt, das Nichthinterfragen der eigenen Existenz. Vier Wände, die unbemerkt immer näher aufeinander zurücken. Ihre Mutter, die auf dem Sofa sitzt und das Telefon anstarrt. Ihr Vater, der auf einem Plastikstuhl in der Polizeiwache darauf wartet, dass ein Kriminalbeamter mit einem Becher Kaffee in der Hand auf ihn zukommt und ihm lächelnd mitteilt, dass seine Tochter gefunden worden ist ...
    »Kennst du das«, fragt sie, »dieses komische Gefühl, dass alles einem heimlichen Plan folgt?«
    »Wie meinst du das?«
    »Dass es kommt, wie es muss.«
    »Was?«
    »Das Leben«, sagt sie, »oder das, was wir dafür halten.«
    Jan weiß nicht, was er für das Leben hält. Eine Ansammlung von Tagen und Nächten. Zeit, die vergeht. Sehen, hören, riechen. Eine Kette aus Ursache und Wirkung, ohne Anfang, ohne Ende, ohne erkennbaren Sinn.
    Er schaut zu ihr rüber. Sie lächelt.
    »Warum lächelst du?«, fragt er.
    »Das ist alles so absurd.«
    »Ja«, sagt er.
    »Aber trotzdem schön.«
    »Ja«, sagt er, »das ist es.«

27
    Landschaften, wie er sie noch nie gesehen hat, leer und weit. Der Himmel wolkenverhangen und tief, der Blick grenzenlos. Die Straße ein graues Band im Nichts. Ab und zu eine Siedlung, ein Dorf, wie zufällig hingetupft. Schneebedeckte Dächer auf rot gestrichenen Holzwänden, weiß gerahmte Fenster und Türen, Rauch, der aus gemauerten Kaminen steigt.
    Dann wieder nur diese unendliche Leere, stundenlang. Zeit, die verrinnt, ein Uhrwerk ohne Zifferblatt. Sie reden kaum. Was sie verbindet, ist ihr Schweigen.
    Irgendwann reißen die Wolken auf, rötliche Flecken im sterbenden Grau. Der Schnee schimmert violett, der Tag geht seinem Ende zu. Vor ihnen taucht eine Tankstelle auf, eine Insel im Nichts, er schaut auf die Benzinanzeige. »Wir müssen tanken.«
    »Wie
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