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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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1
    Was wissen wir schon?
    Nichts.
    Nichts über uns, nichts über die anderen.
    Seine Finger streichen über ihren Nasenrücken, folgen dem Schwung ihrer Augenbrauen, verharren auf ihrer Stirn.
    »Sieben«, sagt er.
    »Wovon redest du?«
    »Die Sommersprossen auf deiner Nase. Genau sieben.«
    Durch den Spalt zwischen den zusammengeschobenen Strandkörben fällt die untergehende Sonne herein, ein schmaler roter Streifen auf ihren nackten, verschwitzten Körpern.
    »Du bist ja verrückt«, sagt sie und lächelt.
    Der Gesang des Windes in der Brandung, das Schreien der Möwen auf dem Meer – er könnte ertrinken in diesem Lächeln.
    Sie schließt die Augen, schmiegt sich an ihn. Ihr Kopf auf seiner Brust, ihre dunkel schimmernden Haare. Eine bläulich hervortretende Ader auf ihrer Schläfe. Wie ein Fluss ins Nirgendwo.
    Einsamkeit packt ihn, die alte Scheu kehrt zurück. Die Angst vor der Laune eines Augenblicks: Laura und Jan, die zufällige Begegnung zweier Körper, vergänglich und ohne Bedeutung.
    Mit den Füßen schiebt er die Strandkörbe auseinander. Die dunklen Wolken im geröteten Himmel, das blassgraue Gras in den Dünen. Die Tagesbesucher sind längst gegangen.
    Er löst sich von ihr, greift hinaus in den kühlen Sand, lässt ihn durch seine Finger rieseln.
    »Riechst du das?«, sagt er. »Es wird bald regnen, es kann nicht mehr lange dauern.«
    »Komm her«, sagt sie und zieht ihn zu sich. Der Wind in ihren Haaren, das Leuchten in ihren Augen, die Wölbung ihrer geöffneten Lippen.
    »Ich muss«, sagt er. Obwohl zu Hause niemand auf ihn wartet.
    Sie nimmt seinen Kopf in ihre Hände. »Nur, wenn du mich noch einmal küsst.«
    Ihr Mund auf seinem, weich und warm. Sie hat ihn geführt, er ist ihr gefolgt. Ihre Augen haben sich in seinen vergraben, ihre Zunge hat seine umschlungen, er ist unter ihren Händen gewachsen und in ihr versunken. Das Brechen der Wellen in seinem Kopf, das Wogen ihrer Brüste über seinem Gesicht. Kein Raum mehr um ihn herum und keine Zeit ...
    Er schlüpft in seine Boxershorts, seine Hose, streift sich das T-Shirt über, bindet sich die Turnschuhe zu. Er kommt sich plötzlich lächerlich vor und ausgeliefert.
    »Sehen wir uns morgen?«, fragt sie.
    »Klar«, sagt er. Ihr Blick in seinem Rücken. Nadeln in seiner Haut.
    Sie legt ihm die Hand auf die Schulter. »Versprichst du mir was?«
    Er dreht sich zu ihr um, sie streicht ihm das verklebte Haar aus der Stirn.
    »Denk nicht so viel.«
    »Ich werd’s versuchen«, sagt er und schaut rüber zum Horizont. Ein Sommerabend im August. Rötliche Wolkenstreifen, hinter denen die Sonne im Meer versinkt. Vor ein paar Monaten ist er siebzehn geworden.
    Erst als er auf seinem Fahrrad nach Hause fährt, erreicht ihn das Glück. Er schießt dahin auf der Landstraße mit ihren Alleebäumen, die sich wie ein graues Band durch das Meer der Felder zieht. Die Äcker fliegen an ihm vorbei, farblos geworden in der einsetzenden Dunkelheit. Der Wind hat aufgefrischt, das Rauschen in den Baumkronen kündigt ein Gewitter an. Von ferne das Grollen eines Donners.
    Dann überfällt ihn der Regen, wie aus dem Nichts. In Sekunden ist er durchnässt, das T-Shirt klebt an seinem Körper. Das Wasser läuft ihm den Rücken und die Beine hinab, durchweicht seine Turnschuhe, der Wind peitscht ihm Tropfen ins Gesicht.
    Er öffnet den Mund, um sich satt zu trinken an dieser Wand aus Regen. In ihm der Himmel, die ganze Welt. Er schließt seine Augen, löst die Hände vom Lenker, jagt mit ausgebreiteten Armen über die Straße. Er fliegt über den Asphalt. Er teilt das dunkle Meer mit seinem Körper und schreit sein Glück heraus.
    Im selben Moment fühlt er das nahende Unheil und verstummt, den Mund noch immer geöffnet. Seine regennassen Lippen. Die Zeit zieht sich zusammen wie versengende Haut.
    Er starrt auf die beiden Scheinwerfer, die durch die Gischt des Regens auf ihn zurasen. Er weiß sofort: Alles, was er ab jetzt tut, wird falsch sein. Er bremst, es kommt ihm albern vor und überflüssig. Sein Hinterrad rutscht weg, das Scheinwerferpaar springt auf ihn zu, ein gieriges Raubtier. Immer näher kommen die Lichter, begleitet vom Kreischen einer Hupe, während er beim Versuch, den Lenker herumzureißen, das Gleichgewicht verliert und stürzt. Ungebremst rutscht er über die Straße. Er hört ein dumpfes Krachen, dann das Knirschen von Metall. Der Motor des Wagens heult auf und erstirbt. Zurück bleibt nur ein leises Zischen. Ausgetretenes Öl, das auf dem heißen
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