Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
Vom Netzwerk:
verschwunden.
    »Catrin?«, ruft er. Und dann noch einmal lauter: »Catrin!«
    Ein paar Schritte neben der Stelle, an der sie eben noch stand, gähnt der Abgrund. Ihm ist, als würde sein Herz aussetzen. Er kniet sich hin, legt sich auf den Schnee, schiebt sich auf den Überhang zu, schaut über die Kante hinab in die Tiefe, aus der die Brandung zu ihm hinaufbrüllt, das Schlagen der Wellen an den Felsen.
    »Catrin!«
    Keine Spur von ihr. Nur eine Angst, wie er sie noch nie gefühlt hat.
    Er kann sich nicht bewegen, er liegt da wie ein Stein. Bis er die offene Tür des Wohnmobils bemerkt und sich hochrappelt, mühsam und schwer. Er läuft auf das Wohnmobil zu, bleibt außer Atem an der Tür stehen.
    »Catrin?«
    »Komm«, sagt sie.

30
    Die Zeugenaussage des Wohnmobilbesitzers und seiner Frau. Die von einer Justizangestellten verlesene ins Deutsche übersetzte Aussage eines Tankwarts aus Fagerhaug im Dovrefjell. Die Einlassungen der beiden Polizisten, die ihn am Nordkap festgenommen haben, die Rechtfertigungsversuche seines Verteidigers, das Plädoyer des Staatsanwaltes. Autodiebstahl, Tankbetrug, die arglistige Täuschung einer hilflosen Blinden. Worte, die ihn nicht erreichen. Sätze, die durch ihn hindurchgehen. Stattdessen schaut er aus dem Fenster des Gerichtssaales in den konturlosen grauen Februarhimmel und denkt an Catrin.
    Er hat versucht, diese letzte Stunde mit ihr zurückzuholen, immer wieder. Noch einmal ihren Geruch zu riechen, ihr Lachen zu hören, den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen. Zu fühlen, wie ihre Hände sich in seinen Rücken krallen, wie sie ihn an sich zieht mit dieser ihr eigenen Unbedingtheit. Nur einmal noch zu spüren, wie es ist, in ihr zu sein. Es ist ihm nicht gelungen. Er kann das nicht beschreiben, er hat keine Bilder dafür. Er weiß nur, dass er nach Hause gekommen ist in dieser Nacht am Nordkap.
    Seine Erinnerung setzt erst ein mit dem Widerschein des Blaulichts auf ihrem nackten Körper. Sie liegen da, schweißglänzend, seine Hand auf ihrer Brust, sie reden nicht, er lauscht ihrem Atem, er beobachtet, wie sich ihr Bauch hebt und senkt, dann sieht er dieses blaue Licht, wie es über ihre Haut wandert, er hört, wie eine Autotür geöffnet und kurz darauf wieder zugeschlagen wird.
    »Sie kommen«, flüstert er.
    »Ja«, sagt sie.
    Er streicht durch ihr Haar, er schaut sie an, er versinkt in ihren blicklosen Augen.
    »Ich muss dir etwas sagen, ich hätte es schon viel früher tun müssen.«
    Ihre Finger legen sich auf seine Lippen. »Nein«, sagt sie, »du musst mir gar nichts sagen.«
    Durch das Fenster dringt der Strahl einer Taschenlampe, wandert die Wände entlang, erreicht das Bett. Jan deckt Catrin zu, er will nicht, dass die Polizisten sie nackt sehen. Der Lichtstrahl der Taschenlampe erreicht sein Gesicht, verharrt darauf. Er schließt geblendet die Augen.
    »Nimm mich noch ein letztes Mal in den Arm«, flüstert Catrin ...
    »Wollen Sie noch etwas sagen?«, fragt die Richterin.
    »Bitte?«
    »Eine letzte Bemerkung?«
    »Nein.«
    In diesem Moment öffnet sich die Tür des Saales. Jan hört das gleichmäßige Klopfen eines Blindenstockes in seinem Rücken. Langsam dreht er sich um. Sie steht da, sie trägt ihre Sonnenbrille. Ihre blonden Haare fallen ihr über die Schultern.
    »Ich möchte eine Aussage machen«, sagt sie.

31
    Was Catrin gesagt hat vor Gericht, hat alles verändert. Seine Strafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden, dazu muss er Sozialstunden in einer gemeinnützigen Jugendeinrichtung ableisten. Morgen wird er seine Lehrstelle kündigen.
    Seine Zukunft ist ein weißes Blatt Papier. Er bereut nichts.
    Sie gehen die Stufen des Gerichtsgebäudes hinunter. Catrins Füße auf den hellen Sandsteinstufen. Ihre Schritte sind leicht und sicher. Den angebotenen Arm hat sie abgelehnt.
    »Du hast es die ganze Zeit über gewusst«, sagt er.
    »Du doch auch«, sagt sie und lächelt.
    Als sie die Straße erreichen, bleibt sie stehen, hebt beiläufig den Kopf. Eine kleine Geste, nicht mehr.
    »Ein schöner Tag«, sagt sie und streicht sich die Haare aus dem Gesicht.
    »Ja«, sagt er.
    Die Art, wie sie spricht, wie sie lacht. Die Sprunghaftigkeit ihrer Gedanken, die Ungeduld ihrer Gefühle.
    »Und jetzt?«, fragt er.
    »Woher soll ich das wissen?«, sagt sie.
    Sie geht los, die Straße hinunter, ihren Stock vor sich herschiebend, gelassen und ohne jede Eile.
    »Kommst du?«, fragt sie.
    Er schaut zu ihr rüber. Er liebt sie.
    Mehr ist dazu nicht zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher