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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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fliegen.
    »Einhundertdreizehn«, flüstert er Catrin zu.
    »Bitte?«
    »Unsere Kabine.«
    »Du willst ...?«
    »Irgendwo müssen wir doch schlafen.«
    »Und wenn sie belegt ist?«
    »Ist wie beim Roulette.«
    Er wendet sich an den Steward. Er versucht, seine Stimme tiefer klingen zu lassen, als sie ist. »Entschuldigen Sie bitte ...«
    »Ja?«
    »Meine Schwester hat ihre Schlüsselkarte in ihrer Kabine liegen gelassen.«
    »Und die Nummer?«
    »Einhundertzwölf«, sagt Catrin.
    Jan schaut sie überrascht an.
    »Kein Problem«, sagt der Steward. Er hat einen skandinavischen Akzent. Er zieht eine Chipkarte durch das Schloss der Kabine, die Tür springt auf.
    »Bitte schön«, sagt der Steward.
    »Vielen Dank«, sagt Catrin.
    Jan wartet, bis der Steward weg ist, dann drückt er die Tür vorsichtig auf, schaltet das Licht ein. Die Kabine ist leer. Zwei Betten, eine separate Dusche, kein Fenster.
    »Glück gehabt«, sagt er. Und dann: »Warum hast du nicht einhundertdreizehn genommen?«
    »Du hast gesagt, es ist wie beim Roulette.«
    »Du bist verrückt.«
    »Nein«, sagt sie lächelnd, »du bist verrückt.«

23
    Sie sitzen in einem der Bordrestaurants. Er schaut durch die Panoramascheiben hinaus. Ein Blick ohne Anfang und Ende. Das Meer, weit und grenzenlos, der Horizont ein Versprechen. Dahinter die Zukunft. Ein leeres Buch, in das er schreibt. Mit einem Füller ohne Tinte.
    »Willst du mal probieren?«, fragt sie und hält ihm einen langstieligen Löffel entgegen. Vanilleeis mit heißen Himbeeren.
    »Nein«, sagt er. »Danke.«
    »Woran denkst du?«
    »An alles und nichts.«
    »Bereust du es?«
    »Was?«
    »Hier zu sein.«
    »Wie kommst du darauf?«
    »Kann doch sein.«
    »Nein«, sagt er, »kann nicht sein.«
    Sie schweigen. Sie isst weiter ihr Eis.
    Die Stimmen der anderen Gäste. Ein Netz aus Worten, ein Geflecht aus Sätzen, unbestimmt und fremd. Kellner, die zwischen den Tischen hin und her huschen. Das Rücken von Stühlen, das Klappern von Geschirr. Gabeln und Messer, die über Teller kratzen. Im Hintergrund Musik. Ein Barpianist, der auf einem Flügel eine Melodie spielt, schwebend, wie die Schaumkronen der Wellen draußen auf dem Meer.
    Catrin legt den Löffel neben ihren leeren Eisbecher. »Sollen wir gehen?«, fragt sie.
    »Ja«, sagt er und winkt einen vorbeikommenden Kellner zu sich. Er reicht ihm einen zerknitterten Zwanzig-Euro-Schein. »Stimmt so.«
    »Ich bedanke mich«, sagt der Kellner und geht davon.
    »Das war’s mit der Kohle«, sagt Jan.
    Kurz darauf stehen sie an Deck, ihre Körper in den Wind gedreht, Salz auf ihren Wangen. Das Tanzen der Gischt an der Bordwand. Die Sonne versinkt im Meer, die weißen Schiffsaufbauten schimmern rosafarben. Catrins Gesicht ist mit rötlichem Licht überzogen, ihre blonden Haare flattern in der eisigen Luft. Sie lächelt. Dann hebt sie unvermittelt die Arme und beginnt zu schreien, einfach so. Schreit gegen den Wind an, lacht dabei wie ein Kind. Und war noch nie so schön.
    »Entschuldige«, sagt sie, als es vorbei ist, »aber mir war einfach so.«
    »Macht doch nichts«, sagt er.
    »Du bist der König der Welt.«
    Ich bin der König der Lüge, denkt er und sieht sich im zwei Grad kalten Wasser des Nordatlantiks versinken.
    »Die Titanic ist untergegangen«, sagt er.
    »Stimmt«, sagt sie und lacht. »Aber das hier ist nicht die Titanic .«
    »Wie machst du das nur?«, fragt er.
    »Was?«
    »Woher nimmst du das?«
    »Was?«
    »Nichts«, sagt er, »schon gut.«
    Er schaut über die Reling, runter in die klatschenden Wirbel der Gischt. Gedanken, die an der Bordwand zerplatzen. Am Horizont überlässt sich der letzte Rest Sonne dem Meer. Irgendwo kreischt eine Möwe.
    »Mir ist kalt«, sagt er.
    Um die Kabinentür wieder öffnen zu können, hat er das Schloss mit angefeuchtetem Toilettenpapier verstopft.
    Er liegt auf dem Bett, lauscht dem leisen Surren der Lüftung, dem fernen Brummen der Maschinen.
    Er schwebt in einem Tank aus flüssiger Leere. Um ihn herum völlige Dunkelheit. Catrin hat ihn gebeten, das Licht auszuschalten. Sie steht unter der Dusche und singt. Durch das Fließen des Wassers dringen Fragmente einer Melodie, leicht und zart.
    Sein Handy klingelt. Er zieht es aus der Tasche, macht das Licht an, schaut auf das Display. Er zögert.
    »Hallo?«
    »Jan!«
    »Mama.«
    »Wo um Himmels willen steckst du?«
    »Ich komme heute nicht nach Hause.«
    »Wir machen uns furchtbare Sorgen.«
    »Und morgen auch nicht.«
    Er wartet auf eine Reaktion. Die
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