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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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sagt sie. »Als ich ein Kind war. Mit meinen Eltern. In Nordschweden.«
    »Und wie war das?«
    »Unglaublich schön.«
    »Komm schon«, sagt die Frau. »Als Erinnerung. Mit der Stadt im Hintergrund.«
    »Wo soll ich denn hier anhalten?«
    »Da vorne.«
    Jan hört den Mann genervt aufstöhnen. Er spürt, wie der Wagen langsamer wird, den Asphalt verlässt, auf einem Stück Schotter ausrollt. Das Anziehen der Handbremse. Die Türen werden geöffnet.
    »Sie steigen aus«, flüstert Jan.
    »Hier drüben«, sagt die Frau.
    »Ist ja schon gut«, sagt der Mann.
    Jan öffnet die Tür der Duschkabine, zieht den Vorhang vor der Plexiglasscheibe vorsichtig zurück, späht hinaus. Der Wagen steht abseits der Straße auf einem Hochplateau über der Stadt, der Motor läuft noch. Das Panorama ist fantastisch. Es liegt Schnee. Unter ihnen, winzig klein, der Hafen mit der Fähre, dahinter der Oslofjord, schwarzgrau, eingehüllt in eine Wand aus Nebel.
    Er beobachtet den Mann und die Frau. Sie fotografiert ihn. Er hat einen Fuß auf einen Findling gestellt. Wie ein Entdecker, denkt Jan, eine behauptete Pose, albern und lächerlich.
    »Jetzt lach doch mal«, sagt die Frau. »Wenigstens ein bisschen.«
    Der Mann verzieht das Gesicht zu einem angestrengten Grinsen. Aber unmittelbar bevor die Frau auf den Auslöser drückt, wird er plötzlich ernst.
    »Da ist jemand!«
    »Was?«
    »In unserem Wagen. Der Vorhang hat sich bewegt.«
    »Das kann doch nicht ...«
    »Wenn ich’s dir doch sage!«
    Zeit, die stehen bleibt, festgefroren in der Plexiglasscheibe eines Wohnmobils, in einer schotterbedeckten Parkbucht über den Dächern von Oslo. Catrins erschrockenes Gesicht. Der Körper des Mannes, der auf das Wohnmobil zuläuft. Seine Frau, die ihm verständnislos hinterherstarrt. Jan, wie er ohne nachzudenken auf den Fahrersitz springt und die Handbremse löst. Der Mann, der die Fahrertür erreicht und sie aufzureißen versucht. Jan, der im selben Moment den Knopf der Zentralverriegelung herunterdrückt. Der Mann, der ihn anglotzt wie irre, in seinen Augen der Ausdruck unbändiger Wut. Jan, der auf das Lenkrad in seiner Hand starrt, auf den Gangwahlhebel, den er auf »Drive« schiebt. Das Wohnmobil, das einen Satz nach vorne macht. Schotter, der aufwirbelt, als er das Gaspedal durchdrückt und an dem wie verrückt gegen die Fahrertür schlagenden Mann und seiner hinzulaufenden Frau vorbei auf die Straße schießt. Sein Blick nach hinten zu der von dem abrupten Start zu Boden geworfenen Catrin, die sich aufrappelt, auch sie ohne jedes Verstehen. Der umgefallene Weihnachtsbaum. Sein Blick zurück auf die Straße, der Versuch, das schlingernde Wohnmobil irgendwie in der Spur zu halten, während sein Herz seine Brust durchschlägt und in seinem Kopf ein Orkan losbricht. Er schnappt nach Luft, will seinen rasenden Atem kontrollieren, er schaut in den Seitenspiegel, sieht den Mann und seine Frau, wie sie auf die Straße laufen, heftig mit den Armen winkend, ehe sie hinter einer Kurve verschwinden.
    Er versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, es gelingt ihm nicht. Er kommt sich vor, als hätte er Drogen genommen, ein Kugelblitz, der durch seine Adern jagt, die Straße vor ihm ist wie ein Tunnel, er wartet darauf, dass sein Kopf explodiert.
    Aber sein Kopf explodiert nicht und langsam beruhigt sich sein Atem.
    Er tritt auf die Bremse, bringt den Wagen zum Stehen, merkt, wie seine Hände schweißnass sind, seine Augen, sein Gesicht. Von hinten tastet sich Catrin zwischen den Sitzen hindurch und schiebt sich auf den Beifahrersitz.
    »Hast du gerade ein Auto geklaut?«, fragt sie.
    »Sieht ganz so aus«, sagt er.
    Er schaut in den Seitenspiegel. In der Kurve taucht der Mann auf. Er läuft auf sein Wohnmobil zu, das Gesicht verbissen. Hinter ihm seine Frau, außer Atem, am Ende ihrer Kräfte.
    »Wir müssen uns entscheiden«, sagt Jan.
    »Entscheiden?«
    »Aufgeben oder losfahren.«
    Der Mann ist jetzt keine dreißig Meter mehr hinter ihnen. Wenn er das Wohnmobil erreicht hat, wird er Jan auf die Straße ziehen. Vielleicht wird er ihn verprügeln. Auf jeden Fall wird er die Polizei rufen. Catrin und er werden sich auf der Rückbank eines Streifenwagens wiederfinden und später in einer Osloer Polizeiwache. Man wird sie befragen, in einem nüchternen, unpersönlichen Büro, man wird ihre Personalien aufnehmen und auf die Fahndung der deutschen Kollegen stoßen. Er wird eine Geschichte erzählen müssen, seine Geschichte, die auch ihre ist, die Polizisten
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