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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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kastanienbraune Leere, an der er abprallt. Genau wie gestern Abend.
    Er fährt mit dem Zeigefinger unter ihren Augen entlang, folgt der Form ihres glanzlosen Augapfels bis zum Ansatz ihrer Nase, streicht leicht über ihre Brauen, während er sie weiter anschaut, bis das, was er sieht, seinen Schrecken endgültig verloren hat.
    »Kann ich sie jetzt haben?«, fragt sie.
    »Ja, natürlich«, sagt er, »nur ...«
    »Nur was?«
    »Du kannst sie nicht mehr aufsetzen.«
    »Wieso nicht?«
    »Weil dich dann jeder erkennt.«
    »Was redest du denn da?«
    »Deine Eltern haben dich als vermisst gemeldet«, sagt er und berichtet vom Anruf seiner Mutter und der Suchmeldung im Radio. »Wahrscheinlich bringen sie es längst auch im Fernsehen. Mit einem Foto von dir.« Dass Laura mit seiner Mutter gesprochen und ihr von dem Unfall erzählt hat, verschweigt er.
    »Und jetzt?«, fragt sie.
    »Ich weiß nicht«, sagt er.
    »Willst du zurück?«
    Zurück, denkt er. Das Firmenlager aufräumen, Brenner wechseln. Auf Baustellen frieren, Leitungsschächte aufstemmen. Dem unerklärten Krieg seiner Eltern zuschauen, der wachsenden Verbitterung seines Vaters, dem schleichenden Verstummen seiner Mutter. Eine unerklärte Schuld abtragen. Auf das eigene Leben warten. Sich fremd fühlen. Den anderen gegenüber und sich selbst.
    »Nein«, sagt er. »Ich will nicht zurück.«
    »Ich auch nicht«, sagt sie.
    Das durchdringende Hupen des Schiffshorns.
    »Oslo«, sagt er. »Wir sind gleich da.«
    Er fragt sich, wie sie unerkannt von Bord kommen. Durch die Passkontrolle können sie nicht. Irgendetwas muss passieren, sonst ist es zu spät.
    Er führt sie zu einem der Parkdecks. Autofahrer, die zu ihren Wagen strömen. Frauen, Kinder. Ein Ruck, der durch das Schiff geht. Gleißendes Tageslicht, das durch die offenen Tore fällt und sich mit dem fahlen Licht der Leuchtstoffröhren mischt.
    »Komm«, sagt er und quetscht sich mit ihr durch die engen Fahrzeugreihen. Lkws, Busse, Lieferwagen. Dann sieht er ihn. Einen Mann, der vor der geöffneten hinteren Tür eines Wohnmobils steht und eine Reisetasche hineinwuchtet. Eine Frau ruft seinen Namen, der Mann dreht sich um.
    »Was ist denn?«
    »Wo bist du?«
    »Hier!«
    »Wo?«
    »Herrgott!«, flucht der Mann und läuft los, seiner unsichtbaren Frau entgegen, die sich irgendwo im Dickicht der Autos verlaufen hat.
    »Los!«, sagt Jan und zieht Catrin mit sich.
    »Was ist das?«, fragt sie und fährt mit der Hand über die geriffelte Kunststoffwand, die Ausbuchtung eines Plexiglasfensters.
    »Ein Wohnmobil«, sagt er.
    Er schiebt sie durch die Tür ins Innere, schaut sich um. Ein Klapptisch, auf dem ein kleiner Tannenbaum mit einer Lichterkette steht. Daneben ein Kühlschrank mit zwei Kochplatten. Im Heck ein Doppelbett.
    »Da steht ein Weihnachtsbaum auf dem Tisch«, sagt er. »Aus Plastik.«
    Er öffnet die Tür der winzigen Duschkabine.
    »Ich schätze, das wird eng«, sagt er.
    »Kennen wir doch schon«, sagt sie.

25
    Geräusche, die durch die Kunststoffwände zu ihnen hereindringen. Die Ausfahrt aus dem Schiff, der Flaschenhals der Rampe, Hunderte Autos, ausgespuckt aus diesem riesigen Bauch aus Stahl.
    Eine Stadt, die er nicht kennt, ein Land, in dem er nie war. Die Vorstellung von etwas Ungesehenem. Dazu die Kommentare eines Mannes und einer Frau, keine zwei Meter von ihm entfernt auf den Frontsitzen eines Wohnmobils.
    »Schau mal, Schatz, das königliche Schloss.«
    »Ist das nicht das Rathaus?«
    »Aber du siehst doch, dass es ein Schloss ist.«
    »Wie bei mir zu Hause«, flüstert Jan.
    »Wie überall«, flüstert Catrin zurück.
    Seine Füße tun ihm weh, die Beine, sein Rücken. Lange hält er das nicht mehr aus. Er fragt sich, ob draußen Schnee liegt und wohin die beiden wollen. Er hört das Rascheln von Papier.
    Die Frau liest dem Mann etwas vor. Über Elektronen, die Bestandteile des Sonnenwindes sind und mit einer Geschwindigkeit von neunhundert Metern pro Sekunde an den Polkappen in die Erdatmosphäre eindringen, weil dort das Magnetfeld der Erde am schwächsten ist. Beim Auftreffen auf die Luft werden die Elektronen abgebremst und geben einen Teil ihrer Energie an die Neutronen in den Atomen weiter, die dadurch in neue Quantenbahnen geworfen werden. Beim Versuch, die alten zu erreichen, geben die Neutronen die aufgenommenen Lichtquanten in der Ionosphäre wieder ab.
    »Verstehst du das?«, fragt Jan leise.
    »Aurora Borealis«, sagt Catrin. »Nordlicht.«
    »Hast du das schon mal ...?«
    »Ja«,
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