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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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Sprachlosigkeit am anderen Ende der Leitung lässt seine Ohren rauschen.
    »Ich hab mit deiner Freundin gesprochen«, sagt seine Mutter nach einer kleinen Ewigkeit. »Sie hat mir von einem Autounfall erzählt. Im August. Eine junge Frau, die erblindet ist. Ich hab das zuerst überhaupt nicht verstanden.« Sie macht eine Pause. »Dann hab ich mich plötzlich erinnert. An Maja und das, was sie von eurer Begegnung mit einer blinden Frau in einem Café erzählt hat.«
    »Und?«, sagt er.
    »Ich hab Laura gefragt. Sie hat behauptet, dass du diesen Unfall ...« Sie spricht nicht weiter. Er kann sie atmen hören, schlucken, er weiß, dass sie jetzt mit den Tränen kämpft.
    »Tut mir leid, Mama.« Er schließt die Augen.
    »Da war diese Meldung«, sagt sie. »Eben im Radio. Ich hab es gehört, als ich das Geschirr ... Eltern, die ihre blinde Tochter vermissen. Die Polizei sucht nach ihr.« Wieder macht sie eine Pause. »Hast du etwa was damit zu tun?«
    Er erstarrt. Seine Muskeln zerreißen, seine Knochen zerbrechen, jeder einzelne von ihnen, er kann das Splittern unter seiner Haut spüren, das Peitschen der Sehnen, das Platzen der Adern.
    »Jan«, hört er seine Mutter sagen, »bist du noch dran?«
    »Mach’s gut, Mama.«
    Er legt auf, schaltet sein Handy aus, schaut rüber zur Dusche. Die Tür steht offen. Catrin stellt das Wasser ab, tastet nach dem Handtuch. Er starrt sie an. Sie weiß nicht, dass er sie sehen kann. Sie glaubt, das Licht sei aus. Das Wasser perlt an ihrem nackten Körper ab. Ihre Brüste, ihr Po, das helle Dreieck zwischen ihren Beinen.
    Sein Atem stockt, er bekommt keine Luft mehr. Er will schreien, aber er kann nicht. Stattdessen blickt er sie weiter an, beobachtet, wie sie sich abtrocknet, noch immer leise singend, das weiße Handtuch auf ihrer hellen Haut, ihre blonden Haare, dunkel von der Nässe. Die Sonnenbrille hat sie abgesetzt, zum ersten Mal sieht er ihr ganzes Gesicht. Sie wendet ihm den Kopf zu, die Sehnen an ihrem Hals spannen sich. Ihre Augen treffen seine. Sie sind braun. Ihr Blick hält nichts. Er geht durch Jan hindurch, als wäre er nicht da. Und frisst ihn trotzdem auf, verbrennt ihn in der Sekunde, die er braucht, um nach dem Schalter zu greifen und das Licht wieder zu löschen.
    Er hört, wie sie sich anzieht, wie sie rüberkommt zu ihm. Er spürt ihr Zögern, das Nachgeben der Matratze, als sie sich neben ihn legt.
    »Darf ich?«, fragt sie und schmiegt sich an ihn.
    Er wagt nicht, sich zu bewegen.
    »Schön, dass du da bist«, sagt sie.
    »Ja«, sagt er.
    »Schlaf gut.«
    »Du auch.«
    Er hört sie gähnen, die Wärme ihres Körpers an seiner Brust, der Duft ihrer feuchten Haare in seinem Gesicht.
    Einen Moment später ist sie eingeschlafen.

24
    Landschaften überfliegen, den Himmel umarmen. Meere durchschwimmen, Treibgut sein. Bis zu den Knöcheln in Wüstensand versinken. Nichts mehr sagen, das Schweigen ist ewig ...
    Er schlägt die Augen auf. Schwärze, die er nicht durchdringen kann. Es dauert einen Moment, bis er begreift. Er hält sich seine Armbanduhr vor die Augen. Leuchtspur in der Finsternis. Kurz nach neun. Er lauscht ins Dunkel. Das eintönige Brummen der Maschinen, dazu ein kaum merkliches Schwanken. Das Schiff fährt noch.
    Er schaltet das Licht an. Catrin schläft. Sie liegt auf der Seite, das Gesicht von ihm abgewandt, eine Hand unter ihrem Kopf. Die Fingerspitzen ragen zwischen ihren Haaren hervor.
    Er schüttelt sie sanft. »Hey.«
    Sie atmet tief ein, seufzt, zieht ihre Schultern hoch.
    »Gut geschlafen?«
    »So gut wie lange nicht mehr.«
    Sie dreht sich zu ihm um, er sieht den Ansatz eines traumtrunkenen Lächelns auf ihren Lippen. Doch dann, mitten in der Bewegung, hält sie plötzlich inne, beschirmt ihre geschlossenen Augen mit der Hand.
    »Ist das Licht aus?«, fragt sie.
    »Nein«, sagt er, »wieso?«
    »Wo ist meine Brille?«
    »Ich weiß nicht, vielleicht in der Dusche.«
    »Bringst du sie mir?«
    Er schaut sie an. »Nein«, sagt er.
    »Bitte«, beharrt sie.
    »Nein«, wiederholt er. Er merkt, wie sie verkrampft. »Ich möchte dich sehen, wie du bist«, sagt er leise, auch wenn er Angst hat vor der Haltlosigkeit ihres Blicks. »Ohne dieses schwarze Ding in deinem Gesicht.«
    Sie rührt sich nicht, sagt kein Wort. Langsam wendet sie ihm den Kopf zu. Er kann die Überwindung spüren, die sie das kostet.
    »Und jetzt mach sie auf«, sagt er, ein Kratzen in seiner Stimme.
    Wie in Zeitlupe öffnet sie die Augen. Er muss sich zwingen hinzuschauen. Diese
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