Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Wer hat Angst vor Jasper Jones?

Titel: Wer hat Angst vor Jasper Jones?
Autoren: Craig Silvey
Vom Netzwerk:
[zur Inhaltsübersicht]
    1
    Jasper Jones ist an mein Fenster gekommen.
    Ich weiß nicht, warum, aber es ist so. Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten. Vielleicht kann er sonst nirgendwohin.
    Auf jeden Fall hat er mir gerade eine Scheißangst eingejagt.
    Es ist der heißeste Sommer, an den ich mich erinnern kann; die dumpfe Hitze sickert auf die geschlossene Veranda, auf der ich schlafe, und setzt sich dort fest. Hier drinnen fühlt es sich an wie am Erdkern. Nur die kühlere Luft, die sich durch die schmalen Glaslamellen meines Fensters zwängt, verschafft mir Erleichterung. Schlafen ist so gut wie unmöglich, deshalb verbringe ich den Großteil der Nächte damit, im Licht meiner Kerosinlampe zu lesen.
    So war es auch heute. Als Jasper Jones urplötzlich gegen meine Jalousie klopfte und meinen Namen zischte, sprang ich vom Bett, sodass meine Ausgabe von
Knallkopf Wilson
zu Boden fiel.
    «Charlie!
Charlie!
»
    Wie ein Sprinter kniete ich mich vors Fenster, angespannt und nervös.
    «Wer ist da?»
    «Charlie! Charlie, komm raus!»
    «Wer
ist
da?»
    «Ich bin’s, Jasper!»
    «Was?
Wer?
»
    «Jasper.
Jasper!
» Dann hielt er sein Gesicht direkt ins Licht. Die Augen grün und wild. Ich blinzelte.
    «
Wirklich?
Was ist los?»
    «Ich brauch deine Hilfe. Komm einfach raus, dann erklär ich’s dir», flüsterte er.
    «Was? Warum?»
    «Herrgott noch mal, Charlie! Jetzt mach schon! Komm raus.»
    Er ist also hier.
    Jasper Jones steht vor meinem Fenster.
    Aufgeregt klettere ich aufs Bett, nehme die staubigen Glaslamellen heraus und staple sie auf meinem Kopfkissen. Dann schlüpfe ich schnell in ein Paar Jeans und blase meine Lampe aus. Als ich mich mit dem Kopf voran durch das Fenster zwänge, zieht irgendetwas Unsichtbares an meinen Beinen. Es ist das erste Mal, dass ich es wage, mich von zu Hause fortzuschleichen. Dieser Nervenkitzel, gepaart mit der Tatsache, dass Jasper Jones
meine
Hilfe braucht, verleiht dem Moment schon etwas Unheimliches.
    Mein Abgang aus dem Fenster erinnert ein bisschen an die Geburt eines Fohlens. Plump und ungelenk rutsche ich heraus, direkt ins Gerberabeet meiner Mutter. Ich steige hastig aus der Rabatte und tue, als hätte es nicht weh getan.
    Es ist Vollmond heute Nacht und sehr still. Wahrscheinlich ist es den Hunden in der Nachbarschaft zu heiß, um Alarm zu schlagen. Jasper Jones steht mitten im Garten hinter unserem Haus. Er tritt von einem Fuß auf den anderen, als würde der Boden glühen.
    Jasper ist groß. Obwohl er nur ein Jahr älter ist als ich, wirkt er wesentlich reifer. Sein Körper ist drahtig, aber kräftig. Figur und Muskulatur sind bereits voll entwickelt. Sein Haar ist eine wilde, struppige Matte. Es ist ziemlich offensichtlich, dass er es sich selbst zurechtstutzt.
    Jasper ist aus seinen Klamotten herausgewachsen. Sein Hemd ist schmuddelig und spannt sich über der Brust, und seine kurze Hose ist über den Knien abgeschnitten. Er sieht aus wie ein Schiffbrüchiger.
    Er macht einen Schritt auf mich zu. Ich weiche zurück.
    «Also dann. Bist du bereit?»
    «Wie bereit? Bereit wofür?»
    «Ich hab dir doch gesagt, dass ich deine Hilfe brauch. Los, komm, Charlie.» Seine Augen huschen von hier nach da, und er verlagert das Gewicht.
    Ich bin neugierig, aber ich habe Angst. Am liebsten würde ich mich umdrehen und in den Pferdearsch zurückkriechen, aus dem ich gerade gerutscht bin, um wieder sicher und geborgen im heißen Leib meines Zimmers zu hocken. Aber das hier ist Jasper Jones, und
er
ist zu
mir
gekommen.
    «Moment, warte mal», sage ich, als ich merke, dass ich barfuß bin. Ich laufe zur Hintertreppe, wo meine Sandalen blank geputzt und akkurat nebeneinanderstehen. Während ich die Schnallen schließe, wird mir klar, dass ich es durch das Anziehen dieser Bubischuhe schon in wenigen Sekunden geschafft habe, wie ein Mädchen dazustehen. Also lege ich beim Zurückjoggen so viel Männlichkeit an den Tag, wie ich zustande bringe, was selbst im Mondlicht eher an ein gichtkrankes Huhn erinnern muss.
    Ich spucke, schniefe und reibe mir die Nase. «Alles klar, Mann. Bist du so weit?»
    Jasper gibt keine Antwort. Er dreht sich einfach um und geht los.
    Ich folge ihm.
    Nachdem wir über unseren Gartenzaun geklettert sind, machen wir uns auf den Weg hinunter nach Corrigan. Die Häuser drängen sich immer enger aneinander, bis sie in der Ortsmitte plötzlich aufhören. Um diese Uhrzeit wirken die Gebäude armselig und farblos. Es fühlt sich an, als würden wir mitten durch eine alte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher