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Der Portwein-Erbe

Titel: Der Portwein-Erbe
Autoren: dtv
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|7| 1.
Der Brief
    Wenn Nicolas Hollmann an jenem ungewöhnlich heißen Apriltag gewusst hätte, dass es Menschen gab, die eine Treppe ansägen würden,
     um ihn davon abzuhalten, ein Weingut zu besichtigen – er hätte den Brief des Rechtsanwalts, der mit den beiden anderen zusammen
     im Kasten war, als er nach Hause kam, nicht geöffnet. Aber er hatte nicht die geringste Ahnung, welche Katastrophen noch auf
     ihn zukommen sollten.
    Hätte er sich überhaupt anders verhalten können, hätte er den neutral wirkenden Brief ignorieren, ihn wegwerfen oder besser
     noch, vorher zerreißen, in den Abfalleimer werfen sollen mit den vergammelten Salatblättern obendrauf, damit er ja nicht in
     Versuchung geriet, doch irgendwann nachzusehen, was eigentlich drin gestanden hatte? Das fragte er sich später, als er in
     schlaflosen Nächten daran zweifelte, ob seine Entscheidung richtig gewesen war. Doch was entschied man schon im Leben? Alles
     wurde entschieden oder entschied sich, Freiheit war eine Fiktion, pure Einbildung. So einfach war das. Nein, er hätte den
     Brief öffnen müssen, besonders bei einem Absender wie diesem: Rechtsanwalt Hassellbrinck, Bleibtreustraße.
    Theoretisch wäre es möglich gewesen, den Brief zu ignorieren. Aber bei Post von Anwälten oder Behörden stellte sich immer
     ein ungutes Gefühl ein, es könnte sich um eine Schuld, eine Verfehlung, ein bevorstehendes Gerichtsverfahren |8| handeln, langwierig und mit Ausgaben verbunden. Vielleicht hatte jemand ein Mahnverfahren gegen ihn angestrengt, weil er eine
     Rechnung übersehen hatte – das schlechte Gewissen lauerte immer darauf, sich hervorzutun, genährt von Staat, Eltern, Chefs
     und Sylvia. Etwas Gutes konnte der Umschlag nicht enthalten.
    Im Hausflur am Briefkasten hatte er den Brief stirnrunzelnd angestarrt, ein schlichter, weißer, länglicher Umschlag. Beim
     Hinaufgehen in seine Wohnung hatte er sich gefragt, was dieser Anwalt wohl von ihm wollte. Der Weg in den fünften Stock war
     lang, da ging einem eine Menge durch den Kopf, besonders an einem so heißen Tag wie diesem. Vielleicht die Kündigung der Wohnung?
     Die vorzeitige Kündigung seines ohnehin befristeten Arbeitsvertrages als technischer Zeichner? Eine Festanstellung war nicht
     drin gewesen – man hatte es als Gnade hingestellt, dass er für einen berühmten Architekten arbeiten durfte.
    Oben angekommen wischte Nicolas sich den Schweiß von der Stirn; als er die Wohnungstür aufschloss, quoll ihm die stickige
     Wärme seiner Dachwohnung entgegen. So heiß war es in Berlin sonst nur im Hochsommer – aber in diesem Jahr war nichts wie sonst.
    Die Tragetasche mit dem neuen Zeichenblock und den weichen Bleistiften ließ er an der Garderobe stehen, hängte die viel zu
     warme Jacke auf – dann folgte der Blick durch die Wohnung. Was hätte jetzt, am späten Nachmittag, anders sein können als am
     Morgen, als er gegangen war? Er betrat die Küche, warf die Post auf den Küchentisch. Der Brief vom Anwalt landete mit der
     Anschrift nach oben, was Nicolas als Aufforderung verstand, ihn sofort zu öffnen. Neugier und Skepsis wechselten sich ab,
     er schob die Entscheidung noch hinaus. Hoffentlich verdarb ihm die Nachricht nicht den Abend, nachdem der Tag schon nicht
     besonders gewesen war. Er füllte ein Glas zur Hälfte mit |9| Leitungswasser, gab zwei Löffel Nescafé hinein, der etwas klumpte, und goss die Mischung mit kalter Milch auf. Zwei Stückchen
     Eis brachten die nötige Frische, und die Milch verlor das Schleimige.
    Er sah sich nach seinem Brieföffner um; Couverts mit dem Finger aufzureißen, empfand er als stillos. Leider waren Brieföffner
     aus Elfenbein, aus Metall oder Holz, im jahrzehntelangen Gebrauch patiniert, längst aus der Mode, ein Finger tat es schließlich
     auch. Technisch gesehen hätte es die Zinke einer Gabel sein können, der Dorn zum Spicken des Bratens aus der Küchenschublade,
     aber Nicolas legte Wert auf Rituale, wie zum Beispiel das Öffnen seiner Post mit der Nachbildung eines Schwertes von Karl
     V., kaum länger als eine Handspanne. Er bewahrte es in der Schublade unter seinem Zeichentisch auf. Er hatte es als Schüler
     auf einer seiner Tramptouren auf einem Flohmarkt in Südfrankreich erstanden, der reine Plunder, aber er liebte es. Als er
     nach dem Abitur ein Jahr lang in Südamerika unterwegs gewesen war, hatte es allerdings in Frankfurt in einem Umzugskarton
     gewartet, war dann zum Studium mit nach Berlin gekommen und hatte nach
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