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Der Portwein-Erbe

Titel: Der Portwein-Erbe
Autoren: dtv
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nicht vorgesehen. Er selbst
     hatte bis heute nicht begriffen, wer oder was in ihrer Welt vorgesehen war.
    Allerdings telefonierte sie häufig mit seinem Vater, rein geschäftlich natürlich. Clever, wie sie war, hatte sie sich einen
     guten Anwalt genommen und sich an der Scheidung gesundgestoßen, was in jenen Zeiten, als Gleichberechtigung noch kein Thema
     war, äußerst selten vorkam. Bis heute bezog sie Tantiemen oder Royalties, wie er es nannte. Und es ärgerte sie maßlos, dass
     Nicolas nicht beim Vater einstieg, nicht nur des Geldes wegen; sie hätte ihn auch zu gern als Spion benutzt. Immer im Bilde
     sein, lautete ihre Devise. Dabei war sie klug genug, niemals ein abfälliges Wort über ihren Exmann verlauten zu lassen, weder
     im Familienkreis noch Bekannten gegenüber, weshalb sich viele gefragt hatten, warum sie sich überhaupt hatte scheiden lassen.
    Entnervt suchte Nicolas sein Telefonbuch in den Taschen des Sakkos, die Nummer seiner Mutter konnte er sich nie merken. Alle
     drei Monate wechselte sie wegen angeblich günstigerer Tarife den Telefonanbieter, es war eine Manie geworden. Er hatte den
     Hörer bereits in der Hand, als er ihn wieder sinken ließ. Er hatte ja gar keine Erklärung, wieso er von Friedrichs Tod wusste.
     Würde er von dem Brief erzählen, den er wieder und wieder glatt strich, als |15| wolle er die Buchstaben vom Papier wischen, würde sich die Frage nach dem Erbe unweigerlich stellen. Es war ihm unklar, ob
     es ihr darum ging, den Sohn versorgt zu sehen oder selbst mehr Einfluss zu gewinnen. Sie hatte die Hoffnung nicht aufgegeben,
     dass die Verlockung des väterlichen Vermögens groß genug sein würde, ihn wieder nach Frankfurt zu führen und ihn zur Aufgabe
     seines gegenwärtigen Lebens mit »Les Misérables« zu bringen, wie sie seine Freunde bezeichnete.
    Irgendwann würde er die Aufgabe finden, die er sich wünschte, in der er aufging, bei der er weder Sohn noch Erbe sein würde
     und auch keine Rattenkäfige für Büroangestellte oder Bausparkassendoppelhäuser entwerfen beziehungsweise zeichnen musste,
     auch keine Details wie Fensterrahmen, Rohrleitungsschächte, Türeinfassungen oder Einfahrten von Tiefgaragen. Er würde eine
     Arbeit finden, bei der er das anwenden konnte, was er gelernt hatte.
    Alles Unsinn, er verlor sich in Fantastereien, in Luftschlössern, die keiner bauen wollte, statt ... Was würde er seiner Mutter
     sagen? Irgendetwas musste er ihr anbieten, sie brauchte was zum Beißen. Nicolas nahm sich vor, ihr lediglich zu sagen, was
     sie hören wollte, das Gespräch wie unbeabsichtigt auf den Onkel kommen zu lassen und sich nach ihm zu erkundigen. Nein, das
     war nicht besonders einfallsreich. Er könnte um Friedrichs Adresse bitten, sagen, er beabsichtige, in Portugal Ferien zu machen,
     und würde nach all den Jahren mal wieder bei ihm vorbeischauen wollen. Schon besser, das war eine passable Begründung. Sie
     würde die Adresse nicht haben und ihn an seinen Vater verweisen, doch wenn sie von Friedrichs Tod wusste, würde sie es ihm
     sagen. Könnte sie einen Grund haben, es zu verheimlichen? Vor Überraschungen war man bei ihr nie sicher.
    Er empfand es als absurd, dass er sich verstellen musste, wo es nicht einmal um ihn selbst ging, sondern um Friedrich, |16| ihren ehemaligen Schwager – den längst vergessenen. Nein, vergessen hatte ihn niemand, höchstens er selbst. Wieso fühlte er
     dann einen Verlust? Friedrich war ein Mensch gewesen, zu dem er Zutrauen gefasst hatte, jemand, der ihn weder mit Fragen nach
     der Schule genervt noch nach seiner Zukunft im väterlichen Imperium gelöchert hatte. Zehn Jahre waren seitdem vergangen –
     wie hieß Friedrichs Weingut?
Quinta do Amanhecer
.
    Nicolas schaltete sein Laptop ein und suchte
amanhecer
in seinem elektronischen Wörterbuch.
Morgendämmerung, Morgengrauen
kam als Antwort, also Landgut der Morgendämmerung. Weiter unten klickte er unter »Tal der Morgendämmerung« zufällig einen
     Satz an, der ihm sein Dilemma zwischen Familie und seiner Wirklichkeit vor Augen führte:
Der Reichtum eines Menschen liegt nicht in der Summe oder Verteilung seiner materiellen Güter, sondern in seiner Würde
.
    Die Familie wollte materielle Güter, er wollte seine Würde. Leicht gesagt. Sicher stammte der Satz von jemandem, der nichts
     besaß. Wieso hatte er das Gefühl, dass er seine Würde verlöre, wenn er ins väterliche Unternehmen einträte? Wieso glaubte
     er, dass alle nur darauf warteten, dass er
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