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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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fragt er.
    »Ich habe es nicht in der Hand.« Sie lächelt.
    Nicht in der Hand, denkt er und schaut auf seine Ravioli. Maschinell hergestellte Teigtaschen mit Hackfleischfüllung in einer Tomatensoße, die diesen Namen nicht verdient. Und ihm trotzdem schmeckt, er weiß nicht wieso.
    »Erzähl mir was«, sagt Catrin.
    »Was denn?«
    »Ganz egal«, sagt sie. »Irgendwas.«
    Er erinnert sich an den Reiseführer, der vorne auf dem Armaturenbrett liegt. Er schlägt ihn auf, an einer beliebigen Stelle. Dann beginnt er vorzulesen.
    »Das Nordkap ist Jahr für Jahr das Sehnsuchtsziel für Touristen aus aller Herren Länder. Über dreihundert Meter tief fallen die Felsen am nördlichsten per Straße erreichbaren Punkt der Welt senkrecht ins Meer. Endlos weit geht der Blick in Richtung Nordpol, um den sich die Erde dreht.«
    »Klingt gut«, sagt sie.
    »Ja«, sagt er.
    »Bringst du mich hin?«
    »Wenn du willst«, sagt er und liest weiter. Und stellt sich vor, wie er ihr von einem Abend im August erzählt, von einem Gewitter auf einer Landstraße, von einem durchnässten Jungen auf einem Fahrrad und dem Moment, ab dem nichts mehr war wie vorher ...

29
    Das Ende der Straße, das Ende der Welt. Nordkap. Sie stehen da, vor sich das Eismeer und irgendwo dahinter der Nordpol. Die Achse, um die sich alles dreht. In ihren Ohren das Heulen des Windes, das Rauschen des Meeres. Die Felsen ein Schattenriss unter einem nachtschwarzen Himmel. Der Mond nicht mehr als eine Ahnung, verborgen hinter Schichten vorbeiziehender Wolkenfetzen. Es ist kalt, Jan friert.
    Zwei Tage waren sie unterwegs, ihre Vorräte sind aufgebraucht. Er ist an der Küste entlangfahren, das Meer immer zu seiner Linken, die Fjorde, die Hunderte von Metern tief das Land durchschneiden, gefüllt mit bleischwarzem Wasser, dahinter diese gewaltigen Berge, die schneebedeckten Flanken durchbrochen von nassgrauem Granit, schroff und unnahbar, die Spitzen von Nebel verhüllt.
    Zwei Tage wie auf der Flucht. Jeder Tankstopp ein weiterer Hinweis für die Polizei. Die Bilder der Überwachungskameras. Eine Schlinge, die sich erbarmungslos zuzieht.
    »Frohe Weihnachten«, sagt er.
    »Dir auch«, sagt Catrin.
    »Der Tank ist leer.«
    »Ja.«
    »Wir kommen hier nicht mehr weg.«
    »Ja.«
    »Sie werden uns kriegen. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
    »Ja.«
    »Ist vielleicht besser so, wir können ja nicht ewig wegrennen.«
    »Vielleicht rennen wir ja gar nicht weg«, sagt sie. »Vielleicht rennen wir ja auf irgendetwas zu.«
    »Und worauf?«
    Sie lächelt. »Falsche Frage«, sagt sie.
    »Nenn mir die richtige.«
    »Weißt du das wirklich nicht?«
    Nein, denkt er, ich weiß es wirklich nicht. Aber dann spürt er so etwas wie eine Ahnung. Er kann es nicht benennen, es ist wie ein Nebel, in dem er nach etwas greift, das er nicht sieht.
    »Vielleicht ist das alles ein großer Irrtum«, sagt er leise. »Vielleicht bin ich blind und nicht du.«
    »Vielleicht«, sagt sie, »vielleicht auch nicht.«
    Die Welt ist ein großes Geheimnis, denkt er, ein wunderbares Geheimnis, und plötzlich weiß er, was er tun muss.
    »Das gibt’s nicht!«, sagt er.
    »Was?«, fragt Catrin.
    »Da ist es.«
    »Was?«
    »Dieses Nordlicht, von dem du erzählt hast.«
    »Aurora Borealis?«
    »Ja.«
    Er schaut in die wolkenverhangene schwarze Nacht. Er schließt die Augen. »Es ist wie der Wind«, sagt er, »ein grünliches Schimmern, eine Windhose aus Licht.« Er stockt, die Worte kommen ihm nur schwer über die Lippen. Wie soll man etwas beschreiben, das man gar nicht sehen kann?
    »Jetzt kommen andere Farben dazu«, stammelt er, »ein zartes Rosa, nein, es ist eher Lila, es ist, als ob das Licht wehen würde, es weht, es wiegt sich hin und her wie Schilf an einem Seeufer.«
    »Hör nicht auf«, sagt sie leise, »bitte ...«
    Er spricht weiter, seine Stimme wird fester, die Worte kommen jetzt wie von selbst, kein Stocken mehr, kein Stammeln, er weiß nicht warum, nur dieser lange, ruhige Fluss aus Worten und Sätzen.
    »Es ist überall«, sagt er. »Als würde die Luft ihre Poren öffnen. Als würde sich der Himmel auftun und jemand würde ein Gefäß mit Licht ausgießen, der Wind spielt mit dem Licht, das Licht tanzt mit dem Wind. Das Licht singt, der Wind hört ihm zu, die Nacht lächelt stumm. Die Nacht wiegt den Wind und das Licht in ihren Armen. Und darunter das Meer, das Licht springt auf den Wellenkämmen hin und her, alles ist nur noch dieses eine große Licht ...«
    Er wendet sich zu ihr um.
    Sie ist
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