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Elfenlied

Elfenlied

Titel: Elfenlied
Autoren: Bernhard Hennen
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Dem Ende nah
    Ich kann sie graben hören. Es ist ein beständiges, leises Schaben und Kratzen. Ich weiß nicht, wie nah sie mir schon sind. Ich glaube, mir bleibt noch ein Tag. Vielleicht auch zwei. Ich mache mir keine falschen Hoffnungen darüber, was geschehen wird, wenn sie zu mir vordringen. Die Elfenfürstin Alathaia steht nicht in dem Ruf, großmütig zu sein, schon gar nicht gegenüber jenen, die sie hintergangen und bestohlen haben. Ihre Magie hat hier unten, tief im Herzen eines Berges im alten Drachenland, keine Macht. Nur deshalb lebe ich noch. Doch es gibt aus dieser Höhle keinen zweiten Ausgang. Der Spalt im Boden, durch den ich Wasser rauschen höre, ist zu schmal, als dass ich mich hindurchzwängen könnte. Mir bleibt nichts, als hier zu sitzen und darauf zu warten, dass die Elfen kommen. So will ich meine letzten Stunden nutzen, um meine Geschichte aufzuschreiben. Und wer zwischen den Zeilen zu lesen vermag, der wird verstehen, warum ich ruhigen Herzens bin. Alathaia kann mich töten, aber ich werde sie dennoch besiegt haben. Ich, Ganda, eine Lutin!
    Ich weiß, die Meinen haben selbst nach den Maßstäben, die man gemeinhin für Kobolde anlegt, einen schlechten Ruf. Wir Lutin sind das einzige Volk, das kein eigenes Land erhielt, als die Alben die Welt erschufen. Wir wandern unstet von einem Ort zum anderen. Wir verstehen uns gut auf Magie und darauf, die geheimen, magischen Pfade der Alben zu finden. Wir gelten als Diebe und Betrüger. Man traut uns jeden Verrat zu, und ich muss gestehen, das meiste, was man über uns erzählt, ist nicht erfunden.
    Wir Lutin reichen den Elfen kaum bis zu den Knien. Man übersieht uns gern, was für Diebe nicht von Nachteil ist. Doch obwohl wir so klein von Gestalt sind, haben wir in den letzten zwanzig Jahresläufen die Geschicke einer ganzen Welt in neue Bahnen gelenkt. Aber ich will nicht vorgreifen. Ich sollte ganz am Anfang beginnen.
     
    An meine frühe Kindheit vermag ich mich kaum zu erinnern. Ich weiß, dass meine Mutter gern reiste. Ich sehe noch ihr Lieblingskleid vor mir, bunt und mit Perlen bestickt, so wie die Tasche, die sie stets über der Schulter trug. Sie schmückte ihren Finger mit einem Ring aus sich windenden Schlangen, den ich als Kind abwechselnd schrecklich oder schlichtweg faszinierend fand. Sosehr ich mich jedoch anstrenge, kann ich mir das Gesicht meiner Mutter beim besten Willen nicht ins Gedächtnis rufen. Ihre Stimme habe ich allerdings nicht vergessen, sie war warm und freundlich.
    Wohin wir auch reisten, Mutter schien immer rastlos zu bleiben. Nirgends verweilten wir länger als ein paar Tage. Sie war eine meisterhafte Diebin. Hunger kannte ich als Kind keinen. Aber die Angst vor dem Dunkel jenseits der Albenpfade, über die sie mich so oft trug, hat sich tief in meine Seele gefressen. Dieses Gefühl, belauert zu werden …
    Ich bin dankbar für das geisterhafte Licht, das in den Kristallen der Höhlenwände hier flackert. Dabei zerbreche ich mir nicht den Kopf, welchen Ursprung es haben mag. Ich bin einfach nur dankbar. Es vertreibt das Dunkel und erlaubt mir, diese Zeilen niederzuschreiben.
    Meine Mutter zeigte mir die schönsten Orte dieser Welt, wie das melancholische Vahan Calyd, in dem in den achtundzwanzig Jahren zwischen zwei Königswahlen nur einige Holde und die Winterkrabben aus den nahen Mangroven leben. Ich besuchte die Elfenstädte, die tief in den Bergen der Snaiwamark und Carandamons liegen. Ich war Zeuge, wie die Kentauren mit ihren Herden durch das verschneite Windland ziehen, bin in Reilimee gewesen, bevor die Trolle es heimsuchten und als die Stadt noch so reich war, dass selbst die Bettler Silberschalen besaßen. Ich sah den Frühlingsnebel über den verwunschenen Seen Arkadiens und die Fürstengräber der Lamassu, in denen dieses seltsame Volk seine Herrscher lebendig einmauert, wenn ihre Zeit gekommen ist. Es sollten Jahre vergehen, bis ich begriff, warum meine Mutter so viel reiste und wie meisterlich sie mich getäuscht hatte. Und nicht nur mich …
    Ich wünschte, ich hätte sie besser gekannt. Wenn ich jetzt an sie zurückdenke, habe ich das Gefühl, als läge ein heimtückischer Fluch auf mir. Ich sehe wieder ihr Kleid vor Augen. Und ganz deutlich höre ich noch die letzten Worte, die sie zu mir sagte: Ich bin kurz Wasser holen.
    Ich weiß, ich habe sie danach noch einmal gesehen, denn ich erinnere mich daran, wie ihre Tasche zwischen leuchtend roten Mohnblüten am Ufer eines Baches lag. Das Kästchen mit
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