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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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wartest du?«, fragt seine Mutter.
    »Ich möchte lieber hierbleiben.«
    »Was soll denn das jetzt?«, fragt sein Vater.
    »Ihr könnt doch auch ohne mich fahren.«
    »Wir wollen grillen heute Abend, schon vergessen?«
    »Bitte, Papa.«
    »Du hast deiner Schwester versprochen, mit ihr Frösche zu fangen.«
    »Genau«, sagt Maja von der Rückbank.
    »Wenn er doch nicht will«, sagt seine Mutter und steigt ein.
    »Ich verstehe dich nicht«, sagt sein Vater.
    Jan tippt auf den Kescher in Majas Hand. »Fängst du einen für mich mit, Prinzessin?«
    »Von wegen«, sagt sie beleidigt.
    »Als ob man sich so was nicht früher überlegen könnte«, sagt sein Vater.
    »Wenn du Hunger hast«, sagt seine Mutter und schlägt die Beifahrertür zu, »im Eisfach sind noch zwei Schnitzel.«
    Das Zittern wird immer stärker. Er streift sich die Schuhe von den Füßen, zieht sich das nasse T-Shirt aus, dann seine Hose und die Boxershorts. Nackt und frierend steht er in der dunklen Diele, in dieser alles verschluckenden Stille, und versucht zu ergründen, welcher Zufall sein Glück in den Dünen mit dem Unfall auf der Landstraße verknüpft hat. Ein Kuss mehr am Strand, eine Pedalumdrehung weniger auf dem Weg nach Hause, und nichts wäre passiert.
    Es war dunkel auf der Straße, der Regen war wie eine Wand. Scheinwerfer, die ins Nirgendwo strahlten, während der Mann auf ihn zutaumelte, blutig und voller Glassplitter. Die Sekunden vor dem Unfall: Jans ausgebreitete Arme, das Glück in seinem regennassen Gesicht. Ein Bild, das sich in das Hirn des Mannes eingebrannt haben muss.
    Er hätte nicht abhauen dürfen. Damit hat er ungefragt seine Schuld anerkannt. Wenn er nur nicht die Augen geschlossen und die Hände vom Lenker genommen hätte. Vielleicht hätte der Mann ihn früher bemerkt, vielleicht hätte er rechtzeitig bremsen können. Vielleicht wäre das Auto nicht gegen den Baum geknallt.
    Vielleicht, hämmert es in seinem Kopf, vielleicht, vielleicht ...
    Vielleicht aber auch nicht.
    Der Name fällt ihm ein, den der Mann hinausgeschrien hat in die Nacht: Catrin.
    Er läuft ins Bad, greift nach einem Handtuch. Er versucht, sich die Kälte aus dem Körper zu reiben und die Angst, er reibt, bis seine Haut wund ist und der Schmerz ihn betäubt, bis seine Kraft ihn verlässt und er zu Boden geht, sich zusammenrollt auf dem Frotteevorleger vor dem Doppelwaschbecken, die aufgeschürften Knie mit den Händen umfassend. Er fängt an zu weinen. Minutenlang liegt er da und weint, ehe das Klingeln des Telefons ihn in die Wirklichkeit zurückholt.
    »Ich bin’s«, sagt Laura. »Ich wollte nur hören, ob du gut nach Hause gekommen bist.«
    »Ja«, sagt er. »Bin ich.«
    »Was ist los?«, fragt sie.
    »Nichts. Was soll denn los sein?«
    Sie schweigt einen Augenblick. Er kann sie atmen hören. »Ist es wegen mir?«
    »Nein«, sagt er, »wegen dir ist es nicht.«
    »Du warst so schnell weg vorhin.«
    »Ich weiß.«
    »Als ob du flüchten wolltest.«
    »Tut mir leid.«
    Sie wartet darauf, dass er weiterspricht, aber seine Worte stecken fest in seinem Hals.
    »Es war schön mit dir«, sagt sie leise.
    »Ja«, erwidert er und spürt die Heiserkeit in seiner Stimme.
    »Liebst du mich?«, fragt sie.
    Was für eine Frage, denkt er und sucht in seinem Inneren nach dem Ort dieser Liebe, aber er findet nur das Bild eines blutüberströmten Mannes, der auf einer Landstraße den Namen einer Frau ruft: Catrin!
    »Es ist etwas passiert«, presst er nach einer sekundenlangen Ewigkeit hervor, »etwas Schlimmes.«
    »Was denn?«, fragt sie.
    »Es gab einen Unfall«, sagt er, »auf dem Weg nach Hause, es hat geregnet wie verrückt und plötzlich war da dieses Auto ...«
    Er erzählt ihr alles, atemlos, ohne Pause, jedes Detail. Das Rauschen in den Bäumen, den Wind in seinem Gesicht, den Regen in seinem Mund. Er verliert sich in den Einzelheiten, wird immer lauter dabei, bis er das Gefühl hat zu schreien. Sie unterbricht ihn kein einziges Mal, lässt ihn einfach reden, über den Rausch seines Glücks und das Grauen des Unfalls, bis der Wasserfall seiner Sätze die Gegenwart erreicht und seine Worte versiegen.
    »Und jetzt?«, fragt sie in sein erschöpftes Schweigen hinein.
    »Ich weiß es nicht«, sagt er, »ich weiß es einfach nicht.«

3
    Er sitzt auf dem Rand der Badewanne, beißt sich auf die Lippen. Die Jodtinktur auf seinen Knien und Handinnenflächen brennt wie Feuer, auch wenn Laura sich alle Mühe gibt, die aufgeschürfte Haut so wenig wie möglich zu
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