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Die siebte Maske

Die siebte Maske

Titel: Die siebte Maske
Autoren: Henry Slesar
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    D ie Nacht ist wie ein Gewebe, dachte Adrienne Haven, als sie sich in die Ecke des Taxis kuschelte. Schwarzer, tiefschwarzer Samt. Oder marineblaue Seide. Oder mit Pailletten besetzter schwarzer Satin, wenn die Sterne glitzern. »Poesie«, sagte sie laut und kicherte, und der Fahrer wandte ein wenig den Kopf. Sie blickte auf seine Identitätskarte. Diese besagte: ›Taxi Nr. 831, Schatz, Bertram; Lizenz ungültig, wenn Fahrer keine Brille trägt.‹ Adrienne beugte sich vor, um nachzusehen, ob Schatz, Bertram, die vorgeschriebene Brille trug, und so war es: Er hatte eine schwere Hornbrille mit dicken Gläsern auf. Er merkte, daß Adrienne ihn musterte, und lächelte, ohne die scheinwerfererhellte Landstraße aus den Augen zu lassen.
    »Alles in Ordnung, Mrs. Haven?«
    »Danke, alles bestens, Mr. Schatz«, sagte Adrienne, erfreut, daß er ihren Namen kannte. Woher eigentlich? Dann erinnerte sie sich an Louise Capice, die an der Gartenpforte von Orchard Hill dem Fahrer eingeschärft hatte: »Passen Sie gut auf Mrs. Haven auf, ja?« Und Phil Capice, der wie immer verwerflich gut aussah, hatte sich erboten, sie nach Hause zu bringen. »Aber ich fühle mich wohl, meine Lieben, ich fühle mich geradezu blendend«, hatte Adrienne gesagt oder glaubte zumindest, es gesagt zu haben, denn sie war ihrer Zunge nicht mehr ganz Herr gewesen, hatte eine Kleinigkeit zuviel getrunken. »Ich fühle mich bestens, blendend«, sagte sie jetzt und sank in die Kissen des Rücksitzes von Taxi Nr. 831.
    Ein paar Minuten später erkannte sie die Einfahrt ihres Hauses, die hohen Linden neigten sich zum Willkommen.
    Als sie in die Kurve einbogen, sah sie das Licht in Walters Arbeitszimmer; der Rest des Hauses wirkte dunkel und düster. Der Fahrer hielt, stieg aus und öffnete die Fondtür.
    »Das tut in New York keiner«, sagte Adrienne und stieg aus. Sie blieb mit dem Absatz im Kies stecken und wäre beinahe gestolpert. Dann suchte sie in ihrer Handtasche, aber der Fahrer winkte ab.
    »Schon erledigt, Madam. Das hat Mr. Capice bereits geregelt.«
    »In New York macht einem keiner die Tür auf«, sagte sie mit einem charmanten Lächeln, das er nicht sehen konnte. »Gute Nacht, Mr. Schatz.«
    »Gute Nacht, Madam.«
    Beim Eintreten dachte sie noch darüber nach – über die Unterschiede im Benehmen der Taxifahrer von Stadt zu Stadt. Sie war in einer Kleinstadt in Ohio geboren, wo der einzige Taxifahrer gleichzeitig Bahnhofsvorstand, Postmeister und Gemeindeschreiber gewesen war. Mit zweiundzwanzig war sie nach New York gegangen, auf der üblichen Suche nach dem Etwas, das Großstädte zu bieten hatten. Ehemann? Karriere? Adrienne hatte keines von beidem in New York gefunden. Die gelben Taxis wimmelten auf den Straßen wie Küken auf einem Bauernhof, so zahlreich, daß Adrienne nicht widerstehen konnte. Ihr mageres Sekretärinnengehalt schwand mit dem Ticken der Taxameter dahin. Eines Sommers wäre sie fast buchstäblich verhungert; da änderte sie ihre Lebensgewohnheiten und stieg in die Untergrundbahn um. Aber die Menschenmassen erschreckten sie; die Hitze machte ihr zu schaffen; sie bekam Krankheiten, die sie daran hinderten, zur Arbeit zu fahren. Monatelang war sie arbeitslos. Sie war ein schönes Mädchen. Alles mögliche hätte ihr passieren können, und einiges passierte auch. Endlich entschloß sie sich, krank und elend, nach Hause zurückzukehren. Ihr verwitweter Vater betete sie nicht nur an, er war auch Arzt und konnte sie heilen – mit Liebe und mit Medizin. Mit beidem überschüttete er Adrienne, und für lange Zeit war er der einzige Mann, der ihr etwas bedeutete. Dann zogen sie nach Monticello, und sie traf Walter Haven.
    Walter. Sie stand im Vorraum ihres gemeinsamen Heims und dachte: Walter. Eine Woge von Gefühl überkam sie. Walter fehlte ihr. Er war nur ein paar Meter entfernt, aber er fehlte ihr. Dann dachte sie: Ich muß betrunken sein. Der Gedanke war ernüchternd. Walter würde von ihrem Zustand nicht begeistert sein. Nicht, daß er etwas gegen Alkohol hätte, aber er nahm an, daß nette Leute die Finger davon ließen. Und Walter stand auf der Seite der netten Leute. Sie lachte glucksend. Du hättest mitkommen sollen, Walter. Du bist selbst schuld.
    Aber Walter kam fast nie mit, wenn Adrienne ausging. Er sagte, er sei zu müde. Er sagte, er habe zuviel zu tun. Und einmal hatte er mit jungenhaft-entwaffnendem Lächeln behauptet, er sei zu alt. Der Altersunterschied zwischen ihnen betrug achtzehn Jahre. Während des
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