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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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spielen kann. Es gibt solche Menschen. Er gehört dazu, das sieht sie sofort. Ein offenes Gesicht. Augen, die lachen, Hände, die nach Berührung verlangen.
    »Ich heiße Catrin«, sagt sie.
    Im Verlauf des Abends verliert sie ihn aus den Augen. Jemand hat ein Lagerfeuer angezündet. Treibholzstücke, alte Paletten. Sie friert, trotz der Flammen. Dann spürt sie seine Hand auf ihrer Schulter.
    Sie lieben sich im feuchten Sand. Er hat seine Jacke ausgebreitet. Die ziellos dahintreibende Skandinavistikstudentin und der zukünftige Kapitän zur See. Danach zittert sie vor Kälte und Unbehagen.
    Er fährt sie nach Hause. Sie sitzen in seinem Wagen, vor ihrer Haustür.
    »Was war das«, fragt sie, »kannst du mir das sagen?«
    »Bis morgen«, sagt er, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Und küsst sie zum Abschied. Und sie liegt mit Herzklopfen im Bett in ihrer kleinen Studentenwohnung und fragt sich, woher er diese Selbstgewissheit nimmt.
    Seit sie denken kann, hat sie sich danach gesehnt, frei von Zweifeln zu sein. Seit der ersten Nacht mit ihm hat sie gehofft, er sei der Schlüssel zu einem anderen Leben. Er weiß nichts von diesen Gedanken. Wahrscheinlich weiß er nicht mal, womit er sie für sich gewonnen hat.
    Es hat geregnet, daran kann sie sich erinnern. Und dass sie nach vorne gerissen wurde, weil er plötzlich bremste. Dann nur noch Fetzen von Bildern, ihr Leben im Schnelldurchlauf, ein Mantel aus Ruhe, warum diese Ruhe, und schließlich: Dunkelheit.
    Sie hört Schritte vor der Tür. Stimmen, die leise miteinander sprechen. Sie spürt, dass die Stimmen ihr gelten, aber sie kann sich keinen Reim darauf machen. Dann ist es plötzlich ruhig vor der Tür, eine Sekunde vielleicht oder zwei, ehe es zaghaft klopft.
    »Martin?«
    »Ich bin hier«, sagt er. Seine Stimme klingt rau. Die übliche Sicherheit fehlt. Stattdessen der Unterton eines Zögerns, das sie nicht kennt an ihm. Sie spürt, wie er ihre Hand nimmt. Anders als sonst. Fremd.
    »Was ist passiert?«
    »Du bist im Krankenhaus«, sagt er, »Uniklinik.«
    Das Gefühl der Fremdheit wächst. Aus dem Hintergrund ein Räuspern. Ein Mann, denkt sie, wahrscheinlich ein Arzt. Am Druck von Martins Hand fühlt sie, wie er sich zu dem anderen umdreht. Sie kann die Blicke spüren zwischen den beiden.
    »Es gab einen Unfall«, sagt Martin. »Mit dem Auto.«
    Dann die Stimme des Arztes. Sein Name erreicht sie nicht. Sie sieht den Baum vor sich. Wie aus dem Nichts schießt er auf sie zu, die Rinde ein nass glänzendes Relief.
    »Meine Augen«, sagt sie.
    »Ja«, sagt der Arzt.
    »Nur weil dieser Scheiß-Airbag ausgeschaltet war«, sagt Martin.
    Sie versteht nicht, was er meint. Sie löst ihre Hand aus seiner, er macht keinerlei Anstalten, es zu verhindern.
    »Was ist mit meinen Augen?«, fragt sie.
    »Ich hab versucht, diesem Idioten auszuweichen«, sagt Martin, »aber bei dem Regen ...«
    »So was zu überleben«, sagt der Arzt. »Ein unglaubliches Glück.«
    Sie hat Mühe, nicht loszuschreien.
    »Sie sind mit dem Kopf auf das Armaturenbrett geprallt«, sagt der Arzt. »Dabei sind die Lamellen der Lüftung gesplittert. Und einer dieser Splitter ...«
    Die Hilflosigkeit in seiner Stimme, die Pausen, die er beim Sprechen macht.
    Martin greift wieder nach ihrer Hand. Sie weiß, was sie jetzt zu hören bekommen wird.
    »Wir haben Sie operiert«, sagt der Arzt. »Heute Nacht noch. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Sehnerv massiv geschädigt ist.«
    »Was heißt das?«
    »Ich will Ihnen nichts vormachen.«
    Zeit ist ein schwarzes Loch, denkt sie, ein Zusammenschrumpfen ins Nichts, vorweggenommene Ewigkeit.
    »Ich bin also blind auf dem Auge.«
    »Wir haben getan, was wir konnten.«
    Getan, was wir konnten, hallt es in ihrem Kopf nach, ein Echo in einem leeren Raum.
    »Und das andere?«, fragt sie.
    Erneut eine Pause. Martins Hand streicht weiter mechanisch über ihren Arm.
    Nimm sie weg, denkt sie, hau ab mit deiner verdammten Hand!
    »Wir müssen abwarten«, sagt der Arzt. Seine Stimme gerät ins Stocken. »Das Problem ist, dass sich die Netzhaut abgelöst hat.«
    »Abgelöst?« Sie schreit es fast heraus.
    »Bitte, Catrin«, sagt Martin.
    »Nein, nein, lassen Sie«, sagt der Arzt. Und zu ihr: »Das ist nicht so einfach. Es gibt Grenzen in der Medizin. Das menschliche Auge ist außerordentlich komplex.«
    Hohle Phrasen, denkt sie, nichts weiter als die hilflose Annäherung an das Unausweichliche.
    »Ich werde also auch auf dem anderen Auge nichts mehr sehen
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