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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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können?«
    »Ich weiß, dass das ein Schock für Sie ist. Aber Sie müssen versuchen, sich darauf einzustellen.«
    Sich darauf einstellen. Ist ihm eigentlich klar, was er da sagt? Und was ist mit Martin, dem zukünftigen Kapitän zur See, der sie noch immer mit seinen schwitzigen Fingern streichelt, gleichförmig wie eine Aufziehpuppe.
    Das alles ist so demütigend. Zu ertrinken in der Hilflosigkeit anderer. Nicht sehen zu können, wie man angestarrt wird. Die Hand, die man nicht erreichen kann, der Boden, der unter einem wegbricht. Der Moment im Sturz, in dem man begreift, dass man niemals unten ankommen wird. Ein plötzliches Versteinern, von den Füßen an aufwärts. Auf ihrer Brust tausend Tonnen Beton. Nicht mehr atmen können und weiterleben müssen. Lebendig tot. Augen sind der Spiegel der Seele, sagt man. Hat sie jetzt noch eine Seele?
    Sie zieht ihre Hand unter Martins schwitzigen Fingern weg.
    »Und du?«, fragt sie.
    »Nichts Schlimmes«, sagt er. »Nur mein Fuß.«
    Ein Fuß gegen zwei Augen. Die Rechnung geht nicht auf.
    »Ich bin für dich da«, sagt er.
    Vielleicht glaubt er sogar, was er da sagt, aber er meint das Gegenteil. Sie weiß das schon länger. Nicht erst seit heute. Wenn sie ihn sehen könnte, würde sie ihm ins Gesicht schlagen.
    Sie hört einen Beeper summen.
    »Ich muss«, sagt der Arzt, »ein Notfall.«
    »Ich habe Durst«, sagt sie mit einer Kälte, die sie nicht kennt an sich. Ihr Körper ist eine einzige Verkrampfung.
    »Ich schicke Ihnen eine Schwester«, sagt der Arzt. Seine Gummisohlen auf dem Linoleum, als er das Zimmer verlässt.
    »Es tut mir so leid«, sagt Martin.
    Du tust dir selber leid, denkt sie. Du sagst das nur, um überhaupt etwas zu sagen. Weil du die Wand nicht erträgst, die zwischen uns steht.
    Sein schlechtes Gewissen spuckt sie an. Ihre eigene Klarheit erschreckt sie. Er wird das nicht aushalten, niemals. Er wird sie verlassen. Und wenn er es nicht tut, wird sie es tun. Was soll sie mit einer Liebe, die endete, bevor sie begann?
    »Du kannst nichts dafür«, sagt sie.
    »Doch«, sagt er, »kann ich. Ich hätte diesen verdammten Airbag wieder einschalten müssen.«
    Dieser lächerliche Zwang, sich zu rechtfertigen. Sich irgendeine Schuld anzuziehen, nur um davon freigesprochen zu werden. Die Unfähigkeit, im richtigen Moment zu schweigen.
    »Ich kenne dich nicht«, sagt sie.
    »Was?«, fragt er zurück.
    »Nichts«, sagt sie, »nur so ein Gedanke.«
    Sie will ihn wegtreiben von sich, sie weiß nicht, warum. Die Worte des Arztes. Eine giftige Wolke, die sich langsam auf sie niedersenkt.
    »Ich hab deine Eltern angerufen«, sagt Martin, »sie sind auf dem Weg.«
    »Lieb von dir«, sagt sie. Und dann: »Ich würde jetzt gern allein sein.«
    Ihr Durst wird immer größer.
    »Catrin«, sagt er.
    »Bitte«, sagt sie.
    Bloß nicht mehr reden. Vor allem das. Sie spürt seine Hand auf ihrem Arm. Nicht mal ein Kuss. Nur die Tür, die hinter ihm ins Schloss fällt. Wahrscheinlich ist er erleichtert.
    Sie fliegt. Mitten in die Wolke hinein. Und wartet. Und lauscht.
    Blind, denkt sie. Fünf Buchstaben für ein ganzes Leben.
    Ab jetzt wird, was sie sieht, nur noch Erinnerung sein. Verschwimmende Bilder, sich auflösende Konturen. Oder Vorstellung, ein ausgemaltes Leben. Sie wundert sich über diesen Moment der Klarheit. Kein Ausweichen mehr. Eine Einsamkeit, die nur ihr gehört, unteilbar und voller Geheimnis. Irgendwie tröstet sie das.
    Die Schwester kommt herein, bringt Wasser. Führt ihre Hand zu einem Becher mit Trinkhalm. Wartet, bis sie getrunken hat. Schließt ihre Finger um einen Klingelknopf.
    »Wenn Sie irgendwas brauchen ...«
    »Danke«, sagt Catrin.
    Dann ist sie wieder allein.
    Stunden später geht die Tür. Oder waren es nur Minuten? Sie hört den fremden Atem nicht, aber sie kann ihn spüren.
    »Wer ist da?«, fragt sie in die Stille.
    Jan starrt sie an. Das Pflaster auf ihren Augen. Ihre rissigen Lippen unter der schmalen Nase. Ihre langen blonden Haare, auf dem Kissen verstreut wie Kornähren. Ihre Hände, die sich in den Bettbezug krallen, schutzlos und voller Angst.
    »Warum sagen Sie nichts?«
    Er würde, wenn er könnte. Sein Erschrecken ist so groß, dass er sich am Türrahmen festhalten muss. Ihre Schönheit nimmt ihm trotz ihrer verdeckten Augen den Atem. Die Sonne spielt mit den Blättern der Bäume vor dem Fenster. Lichtpunkte, die über die Wand huschen.
    »Bitte«, fleht sie, »sagen Sie doch was.«
    Sein Mund ist voller Sand. Der Sand eines
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