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Dieser eine Moment (German Edition)

Dieser eine Moment (German Edition)

Titel: Dieser eine Moment (German Edition)
Autoren: Christoph Wortberg
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Ostseestrands, der Sand der ganzen Welt. Sein Körper ist aus Stein, seine Seele verbrannt. Er schnappt nach Luft wie ein Ertrinkender, schluckt Sand, und mit dem Sand eine Traurigkeit, wie er sie noch nie gespürt hat.

5
    Als er nach Hause zurückkam, heute Morgen, lag die Zeitung auf der Fußmatte vor der Haustür. Er wusste, was er finden würde. Auf der Titelseite ein Foto, schwarz und weiß, der Fotograf hatte einen Blitz benutzt. Ein Autowrack an einem Baum, die Ladefläche eines Abschleppwagens, nass glänzender Asphalt. Polizeibeamte beim Vermessen von Spuren, im Hintergrund ein Rettungswagen.
    In dem Artikel war die Rede von einem unbekannten Fahrradfahrer, der auf die Gegenspur geraten sei. Der Fahrer des Wagens habe versucht auszuweichen und dabei die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Wie durch ein Wunder sei er nahezu unverletzt geblieben, während seine junge Begleiterin schwere Augenverletzungen davongetragen habe. Der Beifahrer-Airbag sei abgeschaltet gewesen, weil die Schwester des Fahrers vor Tagen ihr erst kürzlich geborenes Kind in dem Wagen transportiert habe.
    Auch das Krankenhaus wurde erwähnt, in das die Verletzte gebracht worden war ...
    »Meine Schwester.« Seine Antwort auf die Frage, wen er besuchen will.
    Die Frau hinter der Scheibe des Empfangs. Alterslose Sachlichkeit. Ihr prüfender Blick, ihre Frage nach dem Familiennamen der Patientin. Sein gestammelter Hinweis auf den gestrigen Unfall auf der Landstraße. Die Angst vor einer Entlarvung. Stattdessen ein kurzes Nicken auf der anderen Seite der Scheibe, das Nachschlagen in der Patientenliste, das Nennen einer Zimmernummer.
    Sein Spiegelbild in der Aluminiumverkleidung des Aufzugs. Matt, verschwommen, verzerrt. Der kurze Gedanke an Flucht, dann der Gang über den Stationsflur. Taubenblaues Linoleum, graue Stoßleisten auf blassgelber Wand. Kunstdrucke in billigen Wechselrahmen. Van Gogh, Monet, Cézanne. Behauptete Schönheit, bedeutungslos in ihrer Austauschbarkeit.
    Seine wachsende Unruhe beim Lesen der Zimmernummern. Ihr Zimmer am Ende des Flures. Sein Innehalten vor der Tür. Ein kurzer, ruheloser Blick durch das Flurfenster hinaus auf den Park. Das kühle Metall des Türgriffs unter seiner Hand. Dann sie in ihrem Bett.
    Ihre Stimme.
    Der Sand in seiner Kehle.
    Als hätte er nicht geahnt, was ihn erwarten würde.
    Er schließt die Tür hinter sich, seine Hände zittern. Die Neonröhren der Flurbeleuchtung verschwimmen vor seinen Augen. Angehaltene Zeit, in seinen Ohren ein Rauschen. Schuld, die an ihm klebt wie Teer.
    Eine vorbeikommende Patientin lächelt ihm freundlich zu. Ihr gebeugter Gang unter einem rosafarbenen Morgenrock. Ihre Arglosigkeit wie ein Messerstich mitten in sein Herz.
    Hinter einer angelehnten Tür neben den Aufzügen hört er Stimmen. Eine Frau, hysterisch in ihrer Verzweiflung, und ein Mann, kaum weniger verzweifelt als sie, nur leiser. Nach innen gerichteter Schmerz. Dazwischen die Stimme eines zweiten Mannes. Erklärungen, die beruhigen sollen und trösten, aber nur neue Verzweiflung bewirken.
    »Blind?«, fragt die Frau hinter der Tür erschrocken. Auf dem Plastikschild neben dem Türrahmen liest er den Namen eines Arztes. Und begreift.
    »Ich weiß, wie sehr Sie das treffen muss«, sagt der Arzt, »aber glauben Sie mir, das ist nicht das Ende.«
    »Nicht das Ende«, wiederholt Catrins Vater wie ein Echo.
    »Was bleibt dann noch?« Seine Frau fängt an zu weinen. »Können Sie uns das sagen?«
    »Ihr ganzes Leben«, sagt der Arzt.
    »Was für ein Leben?«, fragt Catrins Vater.
    Denselben Satz hat Jan schon einmal gehört. Vor sechs Jahren, im Bett seines Kinderzimmers. Seine Eltern stritten sich, wie so oft. Seine Mutter war mit Maja schwanger, sein Vater wollte kein zweites Kind.
    »Wo bleibe ich dabei?«, hatte er gefragt, kalt und mit Bitterkeit in der Stimme. »Sag mir das: Wo bleibe ich?«
    »Bitte, Schatz«, hatte sie ihn beschworen und angefangen zu weinen.
    »Genau wie mit dem Jungen«, hatte er entgegnet und gedroht, sich scheiden zu lassen für den Fall, dass sie das Kind bekäme.
    Er hatte sich immer weiter hineingesteigert in seine Wut. Jan hatte nicht verstanden, was ihn so wütend machte. Dann, wie aus dem Nichts, hatte sich der Zorn des Vaters in Resignation verwandelt, er hatte Jans Mutter um Verzeihung gebeten. Er wisse auch nicht, was in ihn gefahren sei, der Hausbau, der ständige Ärger im Job, das alles sei einfach zu viel. Sie hatten sich wieder vertragen. In den folgenden
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