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Die Tote im Badehaus

Die Tote im Badehaus

Titel: Die Tote im Badehaus
Autoren: Sujata Massey
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    Bestimmt kann man sich noch etwas Gräßlicheres vorstellen, als den Silvesterabend in einem völlig überfüllten Zug zu verbringen, während einem langsam eine fremde Hand den Oberschenkel hinaufkriecht. Vielleicht in einem völlig überfüllten Zug, auf den gerade ein Nervengasanschlag verübt wird? Das könnte den wirklichen Tod bedeuten, nicht nur den emotionalen. Ich versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Immerhin war es mir beinahe gelungen, mich davon zu überzeugen, daß sich lediglich ein Koffergriff an mich drückte, seit wir Nagano verlassen hatten.
    Er hatte sich von hinten an mich herangeschlichen, nachdem eine Gruppe Skifahrer eingestiegen war und das winzige Fleckchen, das ich mir erkämpft hatte, so eng wurde, daß ich nicht einmal mehr die Arme bewegen konnte. Sushi-zume – eingequetscht wie Reisbällchen in einer Lunchbox – machte ich mir langsam Gedanken, was mir wohl noch bevorstehen könnte. Ich hatte schon Geschichten von einem Chemiefreak gehört, der mit einer Flüssigkeit Löcher in Kleider ätzte, einem Kaugummikauer, der einem als Andenken eine dicke Kugel ins Haar klebte, und des öfteren schon soll ein Mann den Ausdruck seiner Freude in der Tiefe einer Manteltasche hinterlassen haben. Doch ich hatte angenommen, diese Trottel trieben nur in den Tokioter U-Bahnen ihr Unwesen und nicht in Fernzügen, die in die japanischen Alpen unterwegs waren.
    Die Hand, die am Anfang kaum zu spüren gewesen war, wurde dreister. Ich suchte mit der Ferse, traf auf ein Schienbein, glitt daran entlang nach unten und trat fest auf den darunter befindlichen Fuß. Der Tritt wurde erwidert, und eine Frau schnauzte mich an, ich solle besser aufpassen – ob ich verdammt noch mal nicht wisse, daß dieser Zug überfüllt sei? Ich brummte widerwillig eine Entschuldigung. Die Hand blieb, wo sie war.
    Die Dunkelheit draußen verwandelte die Glasscheibe der Zugtür in einen Spiegel. Ich betrachtete mich: klein, japanisch-amerikanisch, und mit einem Bürstenhaarschnitt, der für San Francisco passend, für den japanischen Geschmack aber etwas zu jungenhaft ist. Hätte ich doch nur Zeit gehabt, Jeans anzuziehen statt des Rocks, der irgend jemandem jetzt leichten Zugang gewährte. Ich konzentrierte mich auf die Spiegelungen der drei Männer, die mir am nächsten standen: ein junger Büroangestellter, der in eine Sportzeitung vertieft war, ein alter Opa und ein harter Arbeiterklassen-Typ mit dem unglaublichen Slogan »Milk Pie Club« auf dem Sweatshirt. Die zwei letzteren schienen zu schlafen, aber man konnte ja nie wissen. Ich setzte meine letzte Waffe ein.
    »Hentai! Te o dokete yo!« Erst sagte ich es auf japanisch, dann auf englisch – Hände weg, perverses Schwein.
    Ich merkte, wie die Hand zögerte und dann verschwand.
    »Der Kerl in Schwarz ist es! Nein, nein, du kommst mir nicht davon!«
    Ich reckte den Hals und sah, wie eine große, füllige Amerikanerin mit ihrem Regenschirm auf den ungehobelten Kerl einhieb.
    »Ich habe nichts getan! Hören Sie auf, bitte!« Die japanische Verteidigung des Mannes tat keinerlei Wirkung auf die ausländische Angreiferin. Die vorher so schläfrigen Passagiere kicherten.
    »Das reicht! Wenn Sie weiter auf ihn einschlagen, wird man Sie festnehmen«, warnte ich die Frau, als sich der Mann von uns wegdrängte.
    »Ich mußte gar nicht verstehen, was Sie gesagt haben. Mir war sofort klar, was da los ist«, schimpfte die Frau, als sie sich auf einem mittlerweile frei gewordenen Platz niederließ. »Männer sind Schweine. Alle. So etwas müßte bestraft werden.«
    Während ich langsam in ihre Richtung vorrückte, nahm ich sie genauer in Augenschein. Das war keine der grauhaarigen Feministinnen in Patchworkjacke und Bauernhose, die Japan so häufig begeistert durch ihre Nickelbrillen betrachten. Meine Retterin trug einen Parka mit Leopardenmuster und purpurrote Reebok-Turnschuhe. Ihre Haare hatten einen Apricot-Ton, den ich noch nie gesehen hatte.
    »Wo haben Sie denn so gut Englisch gelernt?« fragte sie.
    »In Kalifornien.« Kaukasische Gesichter erröteten gewöhnlich bei dieser Antwort, nicht aber dieses.
    »Das sieht man Ihnen gar nicht an.«
    Ich überhörte das. Früher hätte ich etwas gesagt, aber nach drei Jahren in Asien war ich zu freundlich geworden. Zu japanisch.
    »Fahren Sie nach Shiroyama?« fuhr sie fort. Die Aussprache des Ortsnamens bereitete ihr leichte Schwierigkeiten.
    Ich nickte. Ich fuhr in die zweihundertjährige Stadt mit dem alten Kastell, um antike
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