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Hex

Titel: Hex
Autoren: Kai Meyer
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April 1561
    Heiß war die Luft, ganz ungewöhnlich heiß, als der Priester sich zum Himmel wandte und betete, es möge beginnen. Endlich, endlich beginnen.
    Er dachte: Wenn es ein Traum war, dann hat Gott ihn gesandt, denn nur der Herr kann solche Träume bringen. Die Evangelisten und Seher, die Weisen und jene, die sich Propheten nannten, sie alle hatten geträumt, wieder und wieder; die Heilige Schrift war voll von ihren Geschichten und berauschten Visionen, von Begegnungen mit dem Fremden, dem Unbekannten – dem Guten, wie sie meinten.
    Der Traum hatte ihn hierherbefohlen, auf eine Hügelkuppe außerhalb der Stadt. Sein Blick streifte über die Türme und Giebel, über ganz Nürnberg hinweg, bis hinauf zur mächtigen Kaiserburg auf ihrem schroffen, hohen Felsen. Rauchfahnen wehten aus den Kaminen empor, Marionettenfäden, die sich zum klaren Morgenhimmel spannten. In den Fachwerkhäusern schwelte noch die Ofenglut, und das bestärkte den Priester in seiner Überzeugung. Drunten, in den alten Gassen, war es bitterkalt, und jedes Wort nahm vor den Lippen Gestalt an. Hier oben aber, auf dem Hügel, schwitzte er, und die Luft flimmerte vor seinen Augen. Ort und Zeit waren richtig, es gab keinen Zweifel.
    Dabei war er keineswegs der einzige, der es gespürt hatte. Die ganze Stadt wurde seit Tagen von den Auswüchsen einer sonderbaren Erregung heimgesucht. Menschen taten mit einemmal Dinge, die ihnen zuvor völlig fremd gewesen waren. Vor drei Tagen war die Sonne zweimal aufgegangen – einmal über den östlichen Giebeln, kurz darauf ein weiteres Mal, so daß für kurze Zeit zwei gleißende Kugeln am Himmel standen, ehe die überzählige sich auf einen Schlag in Luft auflöste.
    In der folgenden Nacht waren die Bewohner der Häuser am Fuße des Burgberges aus ihren Betten aufgefahren. Als sie aus den Fenstern blickten, sahen sie auf der steilen Rampe, die hinauf zum Burgtor führte, einen einzelnen Mann, der gotteslästerliche Worte in die Nacht hinausschrie. Er stand inmitten eines brennenden Pentagramms, das er mit Hilfe von Schießpulver aufs Pflaster gezogen hatte. An jeder der fünf Spitzen lag der Kopf eines schwarzen Schäferhundes. Im nachhinein wußte niemand zu klären, wie er seine Vorbereitungen unter den Augen der Wachtposten auf den Wehrgängen hatte treffen können.
    Aber da waren auch andere Ereignisse gewesen, freudige, wenngleich auch ebenso unerklärliche Begebenheiten. So behauptete ein Bettler, einer der reichsten Kaufleute Nürnbergs sei am Morgen des Vortages an sein Lager unweit des Tiergärtnertores getreten und habe ihn mit einer erheblichen Barschaft in Gold beschenkt. Als man den Kaufmann wenig später ausfindig machte, um die Angabe des Bettlers zu prüfen, da stellte sich heraus, daß der Händler nicht allein diesen einen Mann, sondern eine ganze Vielzahl der Ärmsten reichlich mit seinen Gaben bedacht hatte. Da er nur zwei Drittel seines Reichtums derart verschleudert hatte, wurde er nicht, wie es sein Weib gefordert, für geisteskrank erklärt. Im Gegenteil, der Bürgermeister ehrte ihn gar für sein Wohlverhalten.
    Der Priester hatte seit dem Tag der zwei Sonnen von vielerlei ähnlichen Vorkommnissen gehört, wobei die erfreulichen die garstigen an Zahl übertrafen. Seit jenem Tag träumte er den Traum, der ihm den Weg hinauf zum Hügel wies.
    Er fiel auf die Knie, legte den Kopf in den Nacken und wandte den Blick empor zum stahlblauen Himmel. Die Sonne stand erst wenige Fingerbreit über den Dächern.
    Die kochende Luft geriet in Bewegung, und ein seltsamer Ton schwoll an, ganz leise nur. Und dann, ohne spürbaren Übergang, ohne weitere Ankündigung, war es soweit.
    Die Thronwagen Gottes jagten heran, und die Welt offenbarte ihren Wahnsinn.
     
    Im Kerkerkeller unter dem Alten Rathaus brachte eine Gefangene ein Kind mit zwei Köpfen zur Welt. Der Arzt, der die Geburt betreute, immerhin ein gestandener Mann und ausgezeichneter Doktor der Medizin, schwor später auf die Bibel, der eine Kopf habe nach dem anderen geschnappt wie ein wildes Tier und dabei in lateinischer Sprache geschrien: »Kain muß sterben! Kain muß sterben!«
    Wenige Straßen entfernt fand die Frau des Kaufmanns, der sein Geld so freigebig verschenkt hatte, ihren Ehemann auf dem Speicher ihres Hauses, wie er mit aufgeschnittenen Handgelenken groteske Zeichen und Gestalten an eine Mauer malte. Der Blutverlust raffte ihn wenig später dahin, und es brauchte acht Diener, die Zeichnungen in tagelanger Arbeit zu
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